Muslimische Zwangsverheiratungen in Deutschland:Die Brautmacher

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Wenn von "Parallelkulturen" die Rede ist, geht es auch um junge Frauen, die gegen ihren Willen eine Ehe eingehen müssen. Die Forderung: "Der Staat muss hart durchgreifen".

Von Nina Berendonk

Nuray war nicht auf ihrer eigenen Hochzeit. Durch einen Zufall hat die 17-Jährige erfahren, dass ihr Vater sie bei einer Reise in die türkische Heimat mit einem jungen Mann verheiratet hat. Die Schwester ihres neuen Ehemannes hat an ihrer Stelle die Papiere unterschrieben.

Ein islamischer Jordanier schaut sich seine Braut bei der Hochzeit noch einmal an. (Foto: Foto: Reuters)

Das ist bei einer religiösen Hochzeit möglich, die eigentlich nicht rechtskräftig, in der Türkei aber dennoch weit verbreitet ist. Dass sie bereits seit Jahren "versprochen" war, wie es im Türkischen heißt, hat Nuray gewusst. Sie hat ihrem Vater gesagt, dass sie diesen Mann nicht will, aber er hat nicht auf sie gehört.

Nach der Hochzeit konnte Nuray nachts nicht mehr schlafen und ist schließlich zur Polizei gegangen. Als ihr Vater davon erfuhr, hat er sie geschlagen und getreten. Die Mutter und die Schwestern konnten ihr nicht helfen, weil sie zu viel Angst hatten. Nuray ist von zu Hause abgehauen und schließlich zu "Papatya" ("Kamille" auf Türkisch) und zu Ayşe Uysal (Name geändert) gekommen.

Die 44-Jährige ist zierlich, hat rot gefärbte Haare und lachende dunkle Augen hinter einer runden Brille. Ihr Arbeitsplatz, die Kriseneinrichtung für junge Immigrantinnen, Papatya, ist wahrscheinlich einer der geheimsten Berlins. Niemals würde Ayşe Uysal einen Besucher mit in die Wohnung nehmen. Es gibt keinen Namen an der Tür, keinen Eintrag bei der Auskunft. Dafür hat Papatya als schutzbedürftiges Objekt einen Notknopf, der die Polizei alarmiert. "Es ist wichtig, dass sich die Mädchen bei uns sicher fühlen", erklärt Uysal.

Geplagt von Selbstvorwürfen

Die jungen Frauen haben einen schwierigen Weg hinter sich, wenn der Jugendnotdienst sie herbringt. Sie haben sich gegen ihre Eltern aufgelehnt, manche von ihnen sind misshandelt und beschimpft worden, alle haben sie ihre gewohnte Umgebung - Familie, Freunde, Schule oder Ausbildung - hinter sich gelassen.

"Das ist unfassbar schwer gerade für Mädchen aus dem islamischen Kulturkreis, in dem viel Wert auf Ehrvorstellungen und Gehorsam gelegt wird", sagt Uysal. Auch sie stammt aus der Türkei. Allerdings haben ihre bildungsbürgerlichen Eltern ihr alle Freiheiten gegeben. Viele der Mädchen plagen sich mit Selbstvorwürfen, haben das Gefühl, ihre Familie zerstört zu haben und schreckliches Heimweh - schließlich sind die meisten von ihnen noch halbe Kinder.

Die Frauen von Papatya - unter ihnen Sozialpädagoginnen, Psychologinnen und Erzieherinnen - zeigen den Mädchen erst einmal ihr Bett in einem der fünf Zimmer, drücken ihnen Pyjama und Zahnbürste in die Hand und geben ihnen etwas Warmes zu trinken.

Noch bevor sie in die Wohnung kommen, hat man den Mädchen am Telefon erklärt, auf was sie sich einlassen: Dass sie vorerst jeglichen Kontakt nach draußen abbrechen müssen, dass sie niemandem von dem Ort erzählen dürfen, an dem nun eine Weile wohnen werden, dass sie sich an die strengen Ausgehzeiten halten müssen. Viele der Mädchen haben einen Freund, bei dem sie sich so lange nicht melden dürfen, bis Papatya herausgefunden hat, ob er nicht von der Familie des Mädchens unter Druck gesetzt wird.

In den folgenden Wochen versucht das Team, Gespräche mit den Eltern zu führen. Unter ihnen sind Palästinenser, Nordafrikaner und Ex-Jugoslawen, die meisten sind jedoch Türken und Kurden. Die freuen sich, wenn sie Ayşe Uysal zum ersten Mal sehen: "Ach, Schwester!", rufen viele erleichtert, wenn sie sich der Landsfrau gegenüber sehen, "Schwester, du wirst uns verstehen!" Und wenn sie dann merken, dass Frau Uysal anders denkt, werden manche sehr wütend.

Die erste Zeit ist die gefährlichste. "Die Familien wollen die Mädchen so schnell wie möglich zurückholen, ohne dass jemand etwas merkt und ihnen der Gesichtsverlust droht", hat Frau Uysal beobachtet. "Sie sind dann am gewaltbereitesten." Wenn Reden nichts hilft, leitet das Papatya-Team weitere Schritte ein: Anträge auf Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts oder gar den elterlichen Sorgerechtsentzug und die Unterbringung der Mädchen im Jugendheim, manchmal auch an anderen Orten.

Falsche Toleranz

Wie viele Zwangsheiraten, bei denen mindestens ein Partner mit körperlicher oder psychischer Gewalt zur Ehe gezwungen wird, es in Deutschland gibt, ist nicht gesichert. Die einzigen konkreten Zahlen liefert eine Erhebung des Berliner Senats bei mehr als 50 Jugend- und Beratungseinrichtungen.

Danach sind im Jahr 2002 in Berlin 230 Fälle aktenkundig geworden. In die Wohnung von Papatya kommen im Jahr 50 bis 60 Schutzbedürftige, von denen ein Drittel von Zwangsheirat betroffen ist, schätzt Frau Uysal. Diese Ehen kommen nach Auskunft des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung in unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen vor, unabhängig von der Schichtzugehörigkeit.

Laut Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte darf eine Ehe "nur aufgrund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen" werden. In Deutschland fällt die Zwangsheirat bislang unter den Tatbestand der Nötigung. Nun drängt die baden-württembergische Landesregierung darauf, sie härter zu bestrafen.

Der Justizminister und Ausländerbeauftragte Ulrich Goll (FDP) hat Ende Oktober eine Gesetzesänderung in den Bundesrat eingebracht: Die Initiative sieht vor, den Straftatbestand "Zwangsheirat" ins Strafgesetzbuch aufzunehmen und die Rechte der Opfer zivilrechtlich zu stärken.

Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat die Beratung der Vorlage jedoch erst einmal "bis zum Wiederaufruf des antragstellenden Landes" vertagt - der Ausschuss befand den Vorschlag zwar angeblich für gut, einige Bundesländer wollen aber vorerst abwarten. Zunächst sollen Experten - also etwa Staatsanwälte oder Familienrechtler - befragt werden, um klären zu können, ob eine Verschärfung des Strafmaßes in der Praxis tatsächlich sinnvoll sein würde.

Überzeugungsarbeit unter Ministerkollegen

Bevor er die Vorlage ein zweites Mal in den Bundesrat einbringt, muss Goll nun zusammen mit seiner neu eingesetzten Fachkommission "Zwangsheirat" erst einmal Überzeugungsarbeit unter seinen Ministerkollegen leisten. Seyran Ateş würde sich über strengere Sanktionen für die Zwangsverheiratung freuen.

Die Strafe könne gar nicht streng genug sein, findet die 41-jährige Berliner Anwältin für Familien- und Strafrecht, die schon vielen türkischen Frauen geholfen hat, sich aus ihrer erzwungenen Ehe zu befreien oder das Sorgerecht für ihre Kinder zu erstreiten.

Inzwischen gilt sie bundesweit als Expertin in diesen Fragen. "Man muss den Eltern klarmachen, dass es nicht rechtens ist, was sie da tun. Für die Mädchen und Frauen ist wichtig, dass sie wissen, dass sie im Recht sind" - darin sind sich Ates¸ und Uysal, die sich gut kennen, einig.

Die Einstellung mancher deutscher "Gutmenschen" bringt Seyran Ates¸ zum Schäumen: "Zu behaupten, Zwangsverheiratung gehöre eben zur Tradition, das ist falsche Toleranz. Die deutsche Gesetzgebung muss hart durchgreifen - die Betroffenen selbst haben nicht die Kraft."

Außerdem sei die Zwangsverheiratung nicht unbedingt traditionell: Beide Frauen beobachten in der zweiten und dritten Generation der in Deutschland lebenden Türken etwas, was sie eine "Ghetto-Kultur" nennen. "Das sind kleine Machos, die fluchen, frauen- und schwulenfeindliche Witze erzählen und anderen mit dem Messer drohen, wenn er ihre Schwester anschaut", erzählt Frau Uysal.

"Gegen diese Haltung müssen wir in Zukunft angehen", fügt Ateş hinzu. "In der Grundschule ist es schon zu spät." Viele der Mädchen hätten deswegen auch nicht das Gefühl, dass ihnen mit der Verlobung unrecht getan würde, das hat sie immer wieder im Verwandten- und Bekanntenkreis erlebt. "Die sitzen auf dem Sofa und kichern vor sich hin, weil sie es toll finden, dass es da irgendwo einen Jungen gibt, mit dem sie verlobt sind, und sie Aufmerksamkeit von der Familie bekommen."

Übrigens werden nicht nur junge Frauen versprochen. Ateş' Bruder musste gegen seinen Willen eine Kusine heiraten. Ateş hat ihn bei der Scheidung unterstützt. An ihr selbst ist der Krug vorbeigegangen, weil ihr kurdischer Vater begriffen hat, dass es schade wäre, wenn dieses Mädchen mit dem scharfen Verstand nicht studieren würde.

Die Mutter hätte sie gerne mit einem Vetter verheiratet gesehen. Aber auch ihr Bruder ist letztendlich glücklich geworden. Nach der Lösung der Verbindung haben sich die Geschiedenen ineinander verliebt und sind heute Eltern zweier Kinder. Was mit Nuray passiert ist, weiß man bei Papatya nicht. Nachdem ihr Vater ihr versprochen hat, ihre Ehe zu lösen, ist sie nach Hause zurückgekehrt und hat sich seitdem nicht noch einmal beim Jugendnotdienst gemeldet.

© SZ vom 19.11.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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