Münchner Sicherheitskonferenz 2012:Zauberformel der Revolution

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Überdrüssig, gedemütigt, misshandelt: Der Umsturz in Ägypten hat nicht nur politische Gründe, er zeugt von einem tiefen Verlangen nach einem höheren Gut - Würde. Und so wurde die Revolution herbeigetwittert.

Ashraf Swelam

Niemand kennt Ägypten und seine die Zeiten überdauernden Eigenheiten besser als Nagib Machfus - der berühmteste Schriftsteller des Landes und Nobelpreisträger. In seinem Buch "Vor dem Thron", das erstmals 1983 erschien und bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, schreibt er gut 18 Jahre vor der Revolution vom 25. Januar: "Wir haben Qualen durchlitten, die über das hinausgehen, was ein Mensch aushalten kann. Als unser Zorn erwachte und sich gegen die dunklen Kräfte der Fäulnis und der Unterdrückung erhob, schimpften sie uns Diebe und nannten unsere Revolte Chaos. Doch es war nichts als eine Revolution gegen den Despotismus, und die Götter hatten sie gesegnet."

Neues Synonym für Freiheit: Demonstranten in Ägypten organisierten den Protest über soziale Medien wie Facebook und Twitter. (Foto: Getty Images)

Die Revolution in Ägypten ist nicht bloß politisch, auch wenn sie das für manche ist. Sie ist nicht allein getrieben von sozialer Ungerechtigkeit und den wirtschaftlichen Härten, auch wenn das für viele zutrifft. Bei dieser Revolution geht es um etwas, das das Politische, Ökonomische und Menschliche in sich vereint, etwas, das schwer zu beschreiben und noch schwieriger zu messen ist: Es geht um Würde. "Karama", wie die weit kraftvollere arabische Übersetzung von Würde lautet, ist nicht irgendein dahingesagtes Wort, es ist die magische Formel dessen, was das menschliche Dasein ausmacht - anständig und in Ehre leben zu können.

Ägypten ist ein Land, in dem der Pharao als Gott galt, Entscheidungen der Regierung als heilig angesehen wurden und Unterwürfigkeit gegenüber dem Staat als politische Kultur aufgefasst wurde. Das hat Historiker zum Schluss verleitet, dass die Revolution im Widerspruch zur historischen Erfahrung des Landes steht. Aber plötzlich kam all das zu einem Ende: Überdrüssig der Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte, gedemütigt durch die unerträglichen Härten beim Bemühen, die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu stillen, und beschämt vom Abstieg ihres Landes auf der Weltbühne, entschieden sich die Ägypter zu revoltieren.

Wie all ihre Vorgänger - im Frankreich des 18. Jahrhunderts bis nach Osteuropa im 20. Jahrhundert - forderten sie Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Doch dazu kam dieses mystischste aller menschlichen Verlangen: Würde. Das ist der Beitrag der Ägypter zum Wortschatz der Revolutionen, dessen Ursprünge Jahrhunderte zurückliegen.

Kann die menschliche Würde eine derart mächtige Kraft sein? Die Antwort der ägyptischen Revolution auf diese Frage ist offenkundig ja. Aber was bedeutet das? Wie können politische Führer und Entscheidungsträger sich auf einen solchen Begriff beziehen? Wie können Regierungen und staatliche Strukturen darauf antworten?

Eine Revolution der Technologie

Die ägyptische Revolution - in der Tat der arabische Frühling - hat nicht nur die Welt in Schock versetzt, sondern schwerwiegende Fehler in unserem Verständnis von dieser Welt offengelegt - wie auch in unserer Einschätzung der Natur der Kräfte, die sie formen und deren wahrer Stärke. So reden zum Beispiel alle über eine Revolution der Technologie und der Kommunikation. Dennoch konnten sich viele - auch bekannte Namen wie Malcolm Gladwell - nicht vorstellen, dass eine Revolution herbeigetwittert werden kann. Aber so war es.

Ebenso bedeutsam: Der arabische Frühling hat bewiesen, dass unsere Analyse-Instrumente nicht geeignet sind, die Welt zu verstehen - und damit auch nicht unsere Prozesse, zu Entscheidungen zu gelangen, sei es als Politiker, Diplomaten oder Ökonomen. Wir verfügen heutzutage über Myriaden von sozialen und wirtschaftlichen Indikatoren, mit denen sich alles messen lässt von der Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft bis hin zum Wohlstand einer Gesellschaft - das mag nützlich sein, aber letztlich unzureichend, um das Wohlergehen einer Gesellschaft einzuschätzen. Tunesien und Ägypten sind zwei Belege dafür.

Gemessen an der Mehrheit der wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren, waren beide Länder unwahrscheinliche Kandidaten für einen Volksaufstand. Beide schlugen sich volkswirtschaftlich betrachtet relativ gut. Beide überstanden den globalen Wirtschaftsabschwung besser als andere Länder mit ähnlichem Entwicklungsstand. Aber die Folgen der unfairen Verteilung der Gewinne aus dem Wachstum der Wirtschaft wurden grob unterschätzt oder komplett übersehen, genau wie die täglichen Nöte der Menschen - und wie daraus ein fruchtbarer Boden für eine Volkserhebung erwuchs.

Eher früher als später sollten sich deshalb Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler daran machen, einen umfassenden Human Dignity Index zu entwickeln, ein Messinstrument für die menschliche Würde, das Faktoren einbezieht wie etwa die Fähigkeit von Regierungen, die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, die Effizienz staatlicher Leistungen, die Einhaltung der Menschenrechte, Ungleichverteilung der Einkommen und der Zugang zu neuen Technologien und Kommunikationsmitteln.

Von der Revolution in Ägypten bis zur Occupy-Wall-Street-Bewegung in New York - die Natur der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten wird auf eine Weise neu definiert, die bis vor Kurzem unvorstellbar war. Dank der oft unterschätzten Revolution in der Kommunikationstechnologie erstarken die Regierten von Tag zu Tag, und die Machtbalance zwischen beiden Seiten wird sich immer weiter in diese Richtung verschieben.

Das Ergebnis davon: Die Tage, in denen die Menschen eine Regierung gewählt haben und dann geduldig darauf warteten, bis der nächste Wahltermin nahte, um ihre Entscheidung zu überprüfen, sind vorbei. Das könnte die beste Chance der Welt auf echte Demokratie sein, oder im Gegenteil die größte Bedrohung für die Demokratie, so wie wir sie kennen. So oder so - demokratisch gewählte Amtsträger überall auf der Welt sollten das zur Kenntnis nehmen.

Ashraf Swelam ist ägyptischer Diplomat und Yale World Fellow. Er nimmt am Young Leaders Programm der Münchner Sicherheitskonferenz teil, das die Körber-Stiftung ausrichtet.

© SZ vom 02.02.2012/afis - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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