Mordserie:Chiffren eines tödlichen Codes

Acht Türken und ein Grieche sind den rätselhaften "Döner-Morden" zum Opfer gefallen, die Polizei geht nun von Taten eines Serienmörders aus.

Joachim Käppner

Er wird sich vorher genau umgesehen haben. Hat all die Leute bemerkt, all den Verkehr, all die Geschäftigkeit eines Werktagmorgens. Hat die Kinder gesehen, die schwatzend in die Schule an der Scharrerstraße gingen; die Supermarktkunden, die mit ihren Einkäufen auf den Parkplatz kamen, auf dem die Dönerbude von Ismail Y. stand; die Passanten, die vielen Autofahrer, die Nachbarn.

Mordserie, dpa

"Wir haben es nicht mit einem Irren zu tun": Eine mit der Mordwaffe baugleiche Pistole wird vor den Porträts der Opfer gehalten.

(Foto: Foto: dpa)

Dann ging er hinein. Er hielt die Ceska Typ 83 mit aufgesetztem Schalldämpfer in einer Plastiktüte. Außer Ismail Y. war niemand in dem winzigen Raum. Der Mann hob die Tüte und schoss durch sie hindurch, auf kurze Distanz in Körper und Kopf. Y. hat vielleicht nicht einmal erkannt, dass dieser Besucher den Tod brachte. Es war der 9. Juni 2005.

Kassel, eine Ausfallstraße. Ein Internetcafé, im Erdgeschoss eines etwas gammeligen Altbaus. Wieder ein belebter Ort. Der Unbekannte tritt ein. Innen sitzt Halit Y., 21 Jahre alt, und wartet auf seinen Vater, der ihn gleich ablösen soll. Aber es kommt nicht der Vater. Es kommt der Mann mit der Ceska und dem Schalldämpfer. Sehr kurze Zeit später findet ein entsetzter Türke seinen Sohn in einer Blutlache.

Diesmal waren sogar Kunden im Lokal - sie saßen in anderen Räumen und in einer Telefonzelle und geben bei der Polizei an, nichts gehört und nichts gesehen zu haben. Es war der 6. April dieses Jahres.

Etwas war anders

"Wenn Du lange genug in den Abgrund hinblickst, blickt auch der Abgrund in Dich hinein." Friedrich Nietzsche hat das geschrieben, und die ersten Kriminalpsychologen des FBI, die sich stolz "Profiler" nannten, zitierten den Philosophen vor 20 Jahren nicht ohne Stolz.

Sie waren die Gründerväter der modernen Kriminalpsychologie, Männer wie John Douglas und Roberty Ressler beschrieben ihre Jagd nach Serienmördern und Sexualverbrechern, nicht ohne Pathos, als Reise in die Dunkelheit der menschlichen Seele. Sie wollten Licht hineinbringen, sich in den Täter hineinfühlen - um ihn so zu fassen.

Alexander Horn versucht genau das. Horn, erst 33 Jahre alt, gilt in der Profiler-Branche als einer der Besten, er war von Beginn an dabei, als das Münchner Polizeipräsidium die Abteilung "Ofa" gründete, die Operative Fallanalyse.

Horn leitet sie und arbeitet eng mit den Soko-Fahndern zusammen, die den Mann suchen, der neun ausländische Geschäftsleute umgebracht hat.

Dass hier etwas anders war, haben die Nürnberger Kripobeamten schon beim ersten Mord gespürt: Der Blumenhändler Enver S. wurde 2001 an einer Straße im Stadtteil Langwasser mit mehreren Schüssen niedergestreckt. "Es ist ja nicht so", sagt Kriminalhauptkommissar Albert Vögeler, "dass wir hier in Nürnberg ständig tödliche Auseinandersetzungen im Rauschgiftmilieu hätten."

Eigentlich hatten sie das noch nie. Beim zweiten Mord, an dem 49-jährigen türkischen Schneider Abdurrahim Ö. in der Gyualer Straße, im hübschen Altbauviertel Steinbühl, stand Vögeler am Tatort in den bescheidenen Arbeitsräumen des Opfers und wusste: "Wir haben eine Serie."

Es ist aber, da ist der Fallanalytiker Horn inzwischen recht sicher, nicht die Art Serie, an welche die Fahnder anfangs geglaubt hatten. Neun Tote. Neun Männer, alle Ausländer, acht Türken, ein Grieche. Alle Gewerbetreibende, das Gewerbe meist klein, manchmal geradezu ärmlich.

Im September 2000 starb der Blumenhändler, zwischen Juni und August 2001 der Änderungsschneider in der Gyualer Straße und zwei Gemüsehändler in Hamburg und München. Fast drei Jahre Pause. Im Februar 2004 wurde in Rostock ein Döner-Aushilfsverkäufer erschossen, im Juni 2005, wieder in Nürnberg, ein Dönerbuden-Besitzer, im selben Monat ein griechischer Mitinhaber eines kleinen Schlüsseldienstes im Münchner Westend; am 4.April dieses Jahres ein Kioskbetreiber in Dortmund und schon am 6. April der junge Türke in seinem Tele-Internetcafé in Kassel.

Neun Morde und so viele Rätsel. Geschossen wurde immer mit der Ceska, es wurde aber auch zweimal eine weitere Pistole benutzt. Hatte der Schütze zwei Waffen? Waren es Auftragskiller? War eine Drogenmafia am Werk oder eine Fanatikergruppe?

Durch die Fenster schallt der Straßenlärm, als liefe die vielspurige Straße mitten durch die Büros. Hier, in einem Nürnberger Betonkomplex von bemerkenswerter Scheußlichkeit, sitzen die Kriminalpolizisten, die dem Unbekannten auf der Spur sind, falls man das überhaupt sagen kann - bei so wenigen Spuren. Es gibt keine Fingerabdrücke, keine DNS-Spuren, keine brauchbaren Zeugenaussagen.

Keine heiße Spur

"Wir haben", sagt Wolfgang Geier mit entwaffnender Offenheit, "keine heiße Spur."

Nürnbergs Kripochef Geier ist ein freundlicher, etwas bäriger Mann mit leisem Humor, und er sieht auf den ersten Blick nicht so aus, wie man sich landläufig den Leiter einer bundesweiten Sonderkommission (die im schönsten Polizeikürzeldeutsch BAO Bosporus heißt) vorstellen könnte, die den gefährlichsten Mörder des Landes stellen will; 300.000 Euro sind für entscheidende Hinweise ausgesetzt.

Auf Geier lastet ein gewaltiger Druck, aber er hält ihn aus. Er hat etwas Unbeirrbares. Er will den Mörder. Und er will nicht nachlassen.

Chiffren eines tödlichen Codes

Die Räume sind schlicht, mit Akten und Computern gefüllt. Die Computer leisten in diesem Fall Dinge, die ein einzelner Mensch gar nicht leisten könnte, sagt ein Kriminalhauptkommissar. Die neue Software "Easy" verknüpft automatisch alle Spuren und Namen, die Opfer und ihr Umfeld auf laufende Verfahren, Beziehungen zur organisierten Kriminalität, Zehntausende Datensätze, deren Grafik bei jedem Namen dem Blick in ein Sonnensystem voller unentdeckter Sterne gleicht. Zehntausende Daten und ein tödlicher Code, der nicht zu knacken ist.

Phantombilder, ddp

Phantombilder von zwei Radfahrern, die im Zusammenhang mit dem Mord in Nürnberg gesucht werden.

(Foto: Foto: ddp)

Es gab in Einzelfällen Verbindungen eines Opfers ins Rotlichtmilieu, in die Kleinkriminalität. Am Kofferboden eines der Erschossenen fanden sich Rückstände von Drogen. Aber mehr gibt es nicht, vor allem nicht die geringste Verbindung zwischen den Opfern. Keine Kurdenspur, keine Heroinmafia, keine Islamisten, kein Schutzgeld.

Die angeblich heißeste Spur hat sich wohl schon in Nichts aufgelöst. Im Kasseler Internet-Café saß zur Tatzeit ein Mann vom hessischen Verfassungsschutz. Bei der Polizei meldete er sich nicht. Als er dann durch Recherchen im Netz gestellt wurde, fehlte nach Aussage der Fahnder ein glaubhaftes Motiv für dieses Schweigen.

Doch er kommt für die anderen acht Taten wahrscheinlich nicht in Frage, und seine Zurückhaltung erklärt sich, so die Polizei, eher mit der Peinlichkeit, dass er im Internet auf Kontaktseiten unterwegs war.

In einer fremden Welt

Bei den Türken stießen die Ermittler auf eine fremde Welt. Und auf Schweigen. Mitten in München, Nürnberg und Kassel gibt es diese Welt mit ihren anderen Spielregeln. Wenn die Polizei kommt, ist man skeptisch. Die Vorsicht gegenüber der Staatsgewalt haben die Türken von zu Hause mitgebracht.

"Du kannst bei einem türkischen Händler nicht einfach zu Hause reinplatzen und Fragen stellen", sagt Fahnder Vögeler: "Bei denen läuft das nicht."

Man setzt sich hin, akzeptiert die Einladung zum Tee, erkundigt sich nach der Familie. Erst dann kommt man langsam zur Sache. Aber herausgekommen ist nichts.

Nach sechs Jahren harter Ermittlungsarbeit sagt Geier: "Wenn eine kriminelle Organisation dahinter stecken würde, wäre sie so gut, dass wir immer noch keinerlei Indiz für ihre Existenz hätten." Eine Reihe von Ermittlern prüft weiterhin, ob sich die vielen Informationsfetzen zu einem Bild verdichten oder wenigstens zur Ahnung eines Bildes, das auf eine mafiaartige Bande hinweist.

Aber eigentlich meint Geier, es sei sehr fraglich, ob es eine solche Organisation gibt.

Vielleicht, dachte der Profiler Alexander Horn schon früh, gibt es ja auch einen Grund, warum das Umfeld der Opfer so wenige Hinweise ergab. Vielleicht ist es ja so, dass die Türken schlicht nichts sagen können. Vielleicht wissen sie wirklich nichts, weil die Mordopfer gar nichts miteinander zu tun haben.

Bessere Gelegenheiten genutzt

Womit die Fallanalytiker bei ihrer entscheidenden Frage waren: Ein Berufskrimineller tut nur, was er tun muss. Was aber hat der Täter getan, was er zur Ausführung des Mordes nicht hätte tun müssen? Er geht ein enormes Risiko ein.

Ein professioneller Auftragskiller "hätte wesentlich bessere Gelegenheiten genutzt": wenn das Opfer abends den Laden abschließt, einen dunklen Parkplatz, verlassene Straßen auf dem Heimweg. Aber er tötet am helllichten Tag.

Horns Leute haben also eine neue Hypothese entworfen: Es handelt sich um einen Einzeltäter, einen Serienmörder, der seine Opfer nicht einmal persönlich kennen muss und sie zufällig auswählt. Diese Hypothese würde vieles erklären.

Erklärbar würde, warum einige der neun Männer getötet wurden, ohne dass ein Fremder ihre Anwesenheit am Tatort vorhersehen konnte. Zum Beispiel der Mord in Kassel: Wenige Minuten später hätte das Opfer das Café bereits verlassen.

Der fahrende Blumenhändler in Nürnberg: Er machte die Urlaubsvertretung für eine seiner Aushilfen. Der Tote in Rostock: ein Illegaler, der bei dem Budenbesitzer kurzfristig Unterschlupf gefunden hatte. Schließt Du morgen mal den Laden auf? fragte der. Der Gast tat es - und starb.

Alexander Horn sagt: "Wenn gerade diese Männer getötet werden sollten, hätten der oder die Täter sie mit enormem Aufwand observieren müssen. Eigentlich konnte niemand wissen, dass sie an diesem Zeitpunkt an diesem Ort waren." Dem falschen Ort zur falschen Zeit.

Serienmörder sind - auch wenn sie in Kriminalromanen und Fernseh-Thrillern in Legionsstärke umgehen - ein extrem seltenes Phänomen. Wenn Horns Hypothese zutreffen sollte, wäre dies ein Serienmord ohne Beispiel in der deutschen Kriminalgeschichte.

Die Fallanalytiker des Bundeskriminalamtes haben nachgewiesen, dass die meisten Serienvergewaltiger und Sexualmörder "regional vorgehen", also in der Nähe ihres Heimatortes. Doch dieser Täter operiert zwischen Rostock und München. Serientaten sind meist sexuell motiviert, diese aber nicht.

Das öffentliche Bild vom Serienmörder besteht aus genialisch-diabolischen Psychopathen wie Hannibal the Cannibal aus dem Klassiker "Das Schweigen der Lämmer". So einen, sagt Horn, habe er noch nie getroffen: "Das Unnormale ist erst auf den zweiten Blick zu sehen."

Serienmörder tragen kein Kainsmal. Fasst man sie, ist die Reaktion von Bekannten und Nachbarn erst einmal: "Von dem hätte ich das nie gedacht." So einen suchen sie nun. Einen, der vielleicht ganz normal wirkt. Der aber gut mit Waffen umgehen kann, er hat das Schießen gelernt, beruflich oder auch privat. Vielleicht ist er ein Sammler oder auch Mitglied eines Schützenvereins.

An dem möglicherweise auffällt, dass er im Bekanntenkreis oft über die Mordserie spricht, der manchmal unruhig und unausgeglichen ist. Der in der langen Pause zwischen August 2001 und Februar 2004 möglicherweise etwas erfahren hat, was ihn stabilisierte, eine feste Beziehung, ein neuer sozialer Zusammenhalt. Der tötet, wenn er in seinem Leben unter Stress gerät.

Die Fallanalytiker glauben, dass dieser Mann vor seinen Taten nervös und auffällig ist. Im Gegensatz zu Sexualmördern, die nach ihrem Verbrechen oft sehr durcheinander sind. "Die Tat", sagt Horn, "könnte ihn eher stabilisieren. Ihn treibt ein ausgesprochenes Zerstörungsmotiv."

Aber welches? Für einen Rechtsextremisten gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Es muss, so glauben die Profiler, eher mit einem persönlichen Erlebnis zu tun haben: "Irgend etwas mag im Umgang mit Türken vorgefallen sein, dass ihm extrem negativ oder demütigend erschien."

Wie ein Schiff, das im sicheren Hafen ankert, muss auch dieser Mann ein Zuhause haben. "Es spricht vieles dafür, dass er seinen Ankerpunkt in Nürnberg hat", sagt Fahndungsleiter Geier. Das kann eine Wohnung sein oder ein Arbeitsplatz. In Nürnberg beginnt die Serie. In Nürnbergs Südosten hatte und brauchte der Täter spezielle Kenntnisse: etwa, wann der Schneider seinen Laden wirklich offen hatte.

Ein Teil der Taten, gerade jene außerhalb Nürnbergs, könne "an Routinehandlungen gekoppelt sein", meint Horn, was bedeutet: Der Täter hat einen plausiblen Grund, sich in oder bei Hamburg, München, Rostock oder Kassel aufzuhalten.

Die stärkste Waffe

Auffälligerweise geschahen die meisten Taten in der Wochenmitte. Ist er dann dienstlich unterwegs? Ein Mann vom Transportwesen, von einem Kundendienst oder einem technischen Service? Ist er dabei allein?

Und es bleiben weitere Fragen: die zweite Waffe, die vage Zeugenaussage von zwei Radfahrern, die zur Tatzeit beim Dönermann in Nürnberg gewesen sein sollen. Gibt es am Ende einen Gehilfen, einen hörigen Mittäter wie bei den Snipern von Washington?

Dort hatten die Heckenschützen, ein sozial verwahrloster Armeeveteran und sein Ziehsohn, mit einem Präzisionsgewehr mehrere Menschen getötet. Aber die waren wahllos ausgesucht, und acht tote türkische Kleinhändler und ein griechischer, den man für einen Türken halten könnte, sind das nicht.

Die Hypothese, die Suche nach Wahrscheinlichkeiten, ist die stärkste Waffe, die den Ermittlern nach so langer und so erfolgloser Suche geblieben ist. Vielleicht hilft die Hypothese vom Serienmörder, den Mann endlich zu fassen.

Vielleicht wird Horn dann damit Recht behalten haben, wenn er sagt: "Wir haben es hier nicht mit einem durchgeknallten Irren zu tun." Vielleicht wird Geier dem Subjekt seiner Jagd einst gegenüber stehen. Und in den Abgrund blicken, der schon neun Menschenleben verschlungen hat.

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