Mögliche Terror-Ziele:Verwundbare Atommeiler

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Nach einer bislang geheim gehaltenen Studie ist keiner der 19 deutschen Reaktoren so gegen einen Flugzeugabsturz gesichert, dass eine Atomkatastrophe als Folge ausgeschlossen werden kann.

Für Sicherheitsexperten ist es eines der schlimmsten Horrorszenarien: Terroristen kapern ein Verkehrsflugzeug und steuern es auf ein deutsches Atomkraftwerk.

Eine als "VS-Vertraulich" eingestufte Studie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu "Flugzeugabsturzszenarien auf deutsche Kernkraftwerke" kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: Keines der 19 deutschen Atommeiler ist so gegen einen Flugzeugabsturz gesichert, dass eine Atomkatastrophe als Folge ausgeschlossen werden kann.

Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) hatte das Gutachten bei der Kommission kurz nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 bestellt. Vor etwas mehr als einem Jahr legten die Sicherheitsexperten ihre Ergebnisse vor. Seitdem wird die brisante Studie unter Verschluss gehalten.

Realitätsnahe Untersuchung

Die Experten gaben sich alle Mühe, ihre Untersuchung möglichst realitätsnah zu gestalten. Unter anderem wurde dazu ein Flugsimulator der Technischen Universität Berlin benutzt. Fünf Kernkraft-Typen wurden als Referenzanlagen genauer analysiert und die Ergebnisse dann auf die übrigen 14 Meiler übertragen.

Im Prinzip gingen die Experten von zwei Unfallszenarien aus: Im ersten zerstört ein Passagierflugzeug die Reaktorhülle. Im zweiten Szenario werden durch den Aufprall die Rohrleitungen im Inneren des Reaktors abgerissen. Die Studie kommt zu einem dramatischen Ergebnis: Zwar würden die Betonhüllen bei den sieben modernen Druckwasserreaktoren, die gegen den Absturz eines Phantom-Kampfjets ausgelegt sind, dem Aufprall einer Passagiermaschine standhalten.

Gau wie in Tschernobyl möglich

Ein Gau wie der in Tschernobyl ist aber möglich: Die Erschütterungen durch den Aufprall könnten zu schweren Zerstörungen im Inneren führen. Bei den drei neueren Siedewasserreaktoren (Krümmel sowie Gundremmingen B und C) würde ein größeres Verkehrsflugzeug sogar die Betonhülle durchschlagen.

Noch verwundbarer sind die neun älteren Kernkraftwerke, bei denen schon durch den Absturz eines kleinen Verkehrsflugzeugs eine Katastrophe ausgelöst werden kann. Der energiepolitische Sprecher der Umweltschutzorganisation BUND, Klaus Traube, sagte dazu: "Die Folgen wären in Deutschland wegen der vielfach höheren Bevölkerungsdichte viel dramatischer als in Tschernobyl. Eine geordnete Evakuierung wäre hier unmöglich."

Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit hält in ihrem Gutachten bauliche Maßnahmen, zum Beispiel eine Verstärkung der schützenden Betonhülle, für nicht realisierbar. Stattdessen wird vorgeschlagen, Objekte außerhalb der Reaktoranlage zu errichten, um Terrorpiloten einen Anflug auf ein AKW unmöglich zu machen.

BUND-Experte Traube kritisierte, dass die Studie noch immer unveröffentlich sei. "Eine offene und ehrliche Diskussion über die Gefahren der Atomenergie ist so nicht möglich." Nach Ansicht von Traube könnten entschlossene Terroristen von innen oder außen jederzeit einen Gau auslösen.

"Die einzige sichere Maßnahme zur Verhinderung terroristischer Bedrohungen von Atomkraftwerken ist deren Abschaltung", so Traube. Doch bis es soweit sein wird, werden wohl noch viele Jahre vergehen. Der von der rot-grünen Bundesregierung beschlossene Atomausstieg sieht vor, dass das letzte Kernkraftwerk voraussichtlich 2020 vom Netz gehen wird.

SZ vom 30.12.2003

© Von Philip Grassmann - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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