Mittelmeer:Hass auf hoher See

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In der Straße von Sizilien spielen sich verstörende Szenen ab: Flüchtlinge sollen Mitpassagiere ins Meer gestoßen haben, weil sie zum falschen Gott beteten.

Von Oliver Meiler, Rom

In der Straße von Sizilien, auf der gefährlichen Fluchtroute zwischen Nordafrika und Italien, spielen sich dramatische Schiffsunglücke und verstörende Gewaltszenen ab. Nach ihrer Ankunft in Palermo berichteten etwa die Überlebenden eines in Seenot geratenen Boots mit mehr als hundert Passagieren, muslimische Flüchtlinge hätten zwölf christliche Mitfahrende ins Meer gestoßen, weil diese in Angst und Verzweiflung zu Gott gebetet hatten. "Es gibt nur einen Gott - Allah", hätten die Muslime gerufen. Es sei zum Streit gekommen zwischen den Männern aus Nigeria, Ghana, Mali, Elfenbeinküste und Senegal, auch zu Schlägereien und Messerstechereien. Offenbar überlebten die Zeugen nur, weil sie sich alle in einer großen Menschenkette an der Hand hielten, damit die Aggressoren sie nicht auch über Bord werfen konnten.

Noch sind einige Fragen dieses bisher einzigartig brutalen und besonders denkwürdigen Vorfalls nicht geklärt. Die italienische Justiz ermittelt. 15 Männer wurden festgenommen, nachdem mehrere Überlebende in separaten Befragungen sie übereinstimmend als Täter erkannt hatten. Der Verdacht lautet auf Mehrfachmord und religiösen Hass. Abgelegt hatte das Boot wie die meisten in Libyen, einem Staat kurz vor dem Zerfall. In manchen Teilen wird er von Milizen beherrscht, die im Schleppergeschäft mitmischen und überfüllte Boote auf die Reise schicken - hauptsächlich mit Flüchtlingen aus Somalia, Eritrea und Syrien. Die kriminellen Banden schießen auch schon mal auf Schiffe der italienischen Marine, um beschlagnahmte Boote zurückzugewinnen für neue lukrative, oftmals tödliche Flüchtlingstransporte. Italien zählt die Ankömmlinge, addiert die Opfer. Beide Statistiken wachsen rasch. Allein in den vergangenen zehn Tagen haben Küstenwache, Marine und Hilfsorganisationen in der Straße von Sizilien mehr als 10 000 Flüchtlinge gerettet. Und niemand weiß, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden. Im Sommer ist die See naturgemäß noch ruhiger als im Frühling.

Sie haben überlebt: Aus Seenot gerettete Flüchtlinge gehen am 16. April in Augusta, Sizilien, an Land. (Foto: Giovanni Isolino/AFP)

Die italienischen Auffangzentren sind bereits alle voll belegt, mit insgesamt 69 500 Flüchtlingen. Der Innenminister versandte diese Woche ein Rundschreiben an die Präfekten in den Regionen und wies sie an, notfalls Hotels und Schulen zu beschlagnahmen, um Migranten würdig unterbringen zu können. Es gibt auch Pläne, Kasernen umzufunktionieren und Zeltlager zu errichten. Lieber wäre es der Zentralregierung, wenn die Gouverneure in den Regionen freiwillig bereit wären, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Doch nicht viele möchten sich politisch exponieren, schon gar nicht jene, die sich Ende Mai einer partiellen Regionalwahl stellen.

Kein Land Europas ist von der Migration direkter betroffen als Italien. Die südlichen Gestaden des Mittelmeers sind nicht weit weg, und keine Fluchtroute in den Schengen-Raum ist billiger als jene über die Straße von Sizilien. Die Regierung in Rom beklagt sich regelmäßig, dass die EU-Partnerstaaten sie nicht genug unterstützten. Doch viel Verständnis erntet sie nicht. Mancherorts im Norden ist man gar der Meinung, Italien habe mit seiner Rettungsmission Mare Nostrum, die im vergangenen November von der europäischen Grenzschutzoperation Triton ersetzt wurde, den Migrationsstrom erst richtig begünstigt.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière beschrieb seine Haltung diese Woche so: "Würden wir jetzt jeden, der im Mittelmeer ankommt, einfach aufnehmen nach Europa, dann wäre dies das beste Geschäft für die Schlepper, das man sich denken könnte. Das wäre Beihilfe für das Schlepper-Unwesen." Für die Grünen war mit dieser Aussage der "Gipfel der Unmenschlichkeit" erreicht. Italien wiederum erklärt den Drang zur Flucht damit, dass im nördlichen Afrika und im Nahen Osten so viele Kriege und Konflikte herrschten wie nie in der jüngeren Vergangenheit, und fordert deshalb Solidarität mit den Verzweifelten, die alle Gefahren auf sich nehmen.

Seit Anfang des Jahres sind nach offiziellen Angaben fast tausend Menschen umgekommen bei dem Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Zwanzig Mal mehr als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres, als Mare Nostrum noch lief.

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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