Migration und Europa:Da kann ja jeder kommen

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Dank Migranten eine neue Form sozialen Selbstverständnisses: Erneuern illegalisierte Einwanderer die europäische Idee?

Alex Rühle

Am vergangenen Mittwoch hat sich das EU-Parlament auf eine einheitliche Richtlinie zur Abschiebung von Flüchtlingen geeinigt. Nach den neuen Regeln können Ausländer ohne gültige Aufenthaltserlaubnis künftig EU-weit für 18 Monate in Abschiebehaft genommen werden. Die "Rückführungsrichtlinie" sieht zudem vor, Abgeschobenen die Wiedereinreise nach Europa fünf Jahre lang zu verweigern. 18 Monate Haft! Nur dafür, dass man irgendwo sein Glück versucht hat.

Indische Migranten im italienischen San Foca (Foto: Foto: Reuters)

Europa ist längst der Einwanderungskontinent Nummer eins; nach Schätzungen der Polizeibehörde Europol reisen jährlich rund 500.0000 Menschen illegal in die Europäische Union ein. Allein in München leben 40.000 bis 50.000 Menschen ohne staatliche Erlaubnis. All diese Menschen wohnen irgendwo, brauchen Arbeit und ärztliche Versorgung.

Ihre Kinder gehen in die Schule, haben Freunde. Sie wenden viel Kraft und Geschick dafür auf, nicht gesehen zu werden. Vielleicht aber, so der Münchner Dramaturg und Autor Polle Wilbert, "sind sie ja Boten einer Zukunft, die unsere Realität aus Grenzen und Nationalstaatlichkeit in Frage stellt".

Abwehrschlacht an den Außengrenzen

Der Soziologe Ulrich Beck hat in einem Text aus dem Jahr 2005 zusammen mit Edgar Grande versucht, diesen "Kosmopolitismus von unten" als eine Erneuerungschance für das europäische Projekt zu lesen.

Da die Konzepte einer nationalen homogenen Kultur und Identität ohnehin passé seien, da sich außerdem "die politischen Energiereserven des europäischen Projekts erschöpft haben", könne man von Migranten eine neue Form sozialen Selbstverständnisses lernen. Das klingt ein wenig professoral. Wenn überhaupt, dann leben Illegale eine sehr graue Form des Kosmopolitismus, ein Leben in Stress und permanenter Angst, erwischt und abgeschoben zu werden.

"Eins hab' ich gelernt: Freiheit heißt immer Krise" - so drückt diese Lebensform in psychischer Atemnot einer der vielen unbekannten Sprecher in Polle Wilberts Theaterstück "Illegal" aus, das am Freitag an den Münchner Kammerspielen Premiere hat (siehe auch das Porträt auf dieser Seite).

Das Stück ist ein Beitrag zur 850-Jahrfeier der Stadt: München hat bislang deutschlandweit die liberalste Politik in Hinblick auf den Umgang mit Menschen ohne legalen Status.

So bekommen schwangere Frauen drei Monate vor und drei Monate nach der Geburt einen Duldungsstatus, sodass die Mutter wenigstens in der schwersten Zeit in halbwegs gesicherten Verhältnissen leben kann und das Kind eine Geburtsurkunde erhält. Außerdem können Kinder von Menschen ohne Papiere in der Schule angemeldet werden. Und der Stadtrat initiierte eine medizinische Anlaufstelle. Man kann die Stadt gar nicht genug loben für diese Ansätze einer vernünftigen Politik.

Denn während Illegalisierte in den Medien meist als Sexarbeiterinnen, moderne Sklaven und Asylbetrüger vorgeführt werden, während Migration vor allem als Drama, ja als Abwehrschlacht an den Außengrenzen der EU verhandelt wird, reisen die meisten Menschen, die hier im Geheimen leben, erst mal ganz legal ein, bleiben anschließend einfach hier und versuchen dann, sich eine möglichst normale, stille Existenz aufzubauen.

"Wir arbeiten. Wir wohnen. Wir wohnen in Wohnungen. Wir halten die Tür auf. Unsere Kinder wissen nichts. Wir essen. Wir trinken. Wir wohnen in Pasing. Wir wohnen in Laim. Wir wohnen am Hart", so der Chor in Wilberts Stück. Kurzum: Sie sind da. Und sie sind überall.

Nachdem vor einigen Jahren mehrere Filme von den Abenteuern der Elendsflüchtlinge erzählten, Menschen, die alles aufgeben, um dem schäbigen Zufall ihrer Geburt zu entgehen - etwa in Michael Winterbottoms "In this World", Stephen Frears' "Dirty pretty Thing" und Lukas Moodyssons "Lilja 4-ever" -, betreten die Illegalen nun auch die deutschen Bühnen.

Es kann kaum Zufall sein, dass momentan Euripides' "Medea" so oft aufgeführt wird, das erste Stück, in dessen Zentrum eine Frau ohne Aufenthaltsgenehmigung steht, eine verlassene Mutter, der der König 24 Stunden gibt, um sein Reich zu verlassen. In den aktuellen Inszenierungen wird sie nicht als barbarische Kindsmörderin und Rachefurie in Szene gesetzt, sondern als Opfer einer überzogenen Asylpolitik, als Wurzellose, die sich nicht zu assimilieren versteht.

"Wir scheißen auf eure Gesetze. Eure Gesetze scheißen auf uns. Wir kennen alle Regeln, damit uns keiner erkennt." Der Chor in Polle Wilberts Stück ähnelt auf verstörende Weise den aggressiven "Schattenstimmen", die vor wenigen Wochen am Schauspiel Köln Premiere hatten - acht Monologe von Illegalen, recherchiert und sprachlich nachbearbeitet von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel.

Konzentration auf die grellen Geschichten

Leider konzentrieren sich Zaimoglu und Senkel in den "Schattenstimmen" zu sehr auf die grellen Geschichten, die Sexschichtarbeiter, die afrikanischen Stricher und ukrainischen Edelnutten, ja man könnte nach dem Lesen des Textes meinen, jeder zweite Illegale in Deutschland arbeite in irgendwelchen "Feuchtgebieten". Polle Wilbert ist da behutsamer. Er hat wochenlang im Café 104 verbracht, der Anlaufstelle, die Illegalisierte in München haben, und aus den Schicksalen, von denen er dort hörte, eine Art Oratorium aus dem Verborgenen komponiert.

Man könnte aus den beiden Stücken, so unterschiedlich sie sind, einen praktischen Lebensratgeber für das Leben im Untergrund kompilieren. Die Schattenstimmen leben in beiden Stücken nach den Regeln der Unsichtbarkeit: Reg dich nicht auf, wenn man dir zu wenig Wechselgeld gibt. Geh nie bei Rot über die Straße. Gehe nie abends aus der Wohnung. Und sie kennen viele Formen der "Ethno-Mimikry", wie die Kulturanthropologin Regina Römhild die verschiedenen Formen der Selbstinszenierung nennt, durch die man sich dem Multikulturalismus andient, um ihn zu überlisten.

In Zaimoglus "Schattenstimmen" erzählt eine Ernährungswissenschaftlerin aus Kiew: "Ich spreche gut Deutsch, und ich habe mir einen französischen Akzent zugelegt, da ich in der Schule Französisch als erste Fremdsprache hatte und mir das Deutsche aus dem Französischen aneignete. Die meisten Leute, die mich kennenlernen, halten mich für eine Französin. Ich widerspreche ihnen nicht."

Der erleichterte Staatssekretär

Das Interessanteste an beiden Stücken aber ist das leise Staunen der Schattenstimmen und Namenlosen, das Staunen über die Verdrängungskräfte der deutschen Öffentlichkeit. Sie sind überall, sie arbeiten als Au-Pair, Küchenhilfe und Putzfrau, und dennoch wird so getan, als gebe es sie nicht. "Das finde ich das Geilste an den Deutschen", sagt ein Ukrainer bei Wilbert, "die denken immer noch, alles sei in Butter, unsere Gesetze funktionieren, unsere Grenzen sind ordentlich dicht. Jeder von denen hat irgendwo einen Illegalen arbeiten, aber die tun so, als sei alles in Ordnung."

Peter Altmaier, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, zeigte sich am Mittwoch nach der Unterzeichnung der EU-weiten "Rückführungsrichtlinie" erleichtert: Damit werde endlich "die Abschiebung von denen, die wir loswerden wollen, erleichtert".

Mit Becks Utopie, von Migranten eine neue Form sozialen Selbstverständnisses zu lernen, hat diese Richtlinie nichts zu tun. Im Gegenteil, man könnte meinen, all die verbliebenen politischen Energiereserven des europäischen Projekts, auf die Beck so hoffte, werden darauf verwendet, die Grenzen immer noch dichter zu machen. Helfen wird das kaum. Oder wie es in Wilberts Chor heißt: "Wir werden erwischt. Wir kommen wieder. Wir verstecken Pässe. Wir kaufen Pässe. Wir machen den Garten."

© SZ vom 20.6.2008/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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