Meine Presseschau:Hochdruck-Reinigung

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(Foto: Bernd Schifferdecker)

Nach den Attentaten von Paris sieht sich Belgien als ein Land am Pranger. Nirgendwo sonst gibt es im Verhältnis so viele gewaltbereite Islamisten. Die Medien diskutieren die Konseqeunzen, grundlegende Reformen bleiben jedoch tabu.

Von Thomas Kirchner

Belgien steht am Pranger. Hunderte Journalisten aus aller Welt streiften in dieser Woche durch die Brüsseler Stadtgemeinde Molenbeek-Saint-Jean, die erstaunlich viele islamistische Terroristen beherbergt. Kritisiert wird die Laxheit der Politik, das Versagen der Sicherheitsdienste. Nicht nur ein sicherer Hafen für Dschihadisten scheint das Land zu sein, sondern auch ein Waffenbasar. Nirgends in Europa komme man leichter an Kalaschnikows und Ähnliches als in Belgien, schreibt die Financial Times.

Innenminister Jan Jambon will nun "aufräumen", zumindest in Molenbeek. Das klingt nach dem "Kärcher", dem Hochruckreiniger, mit dem vor zehn Jahren Nicolas Sarkozy die Pariser Vorstädte behandeln wollte. Premierminister Charles Michel stellte einen Aktionsplan mit 18 Punkten vor: mehr Kontrollen, Sperrung gewisser Internetseiten, Einsatz von Soldaten, Aufzeichnung von Personendaten in Schnellzügen.

Der Eindruck liege nahe, kommentiert Belgiens interessanteste Zeitung De Morgen, dass die Regierung unter Druck aus dem Ausland Tatkraft nur vortäusche. Jetzt müsse untersucht werden, warum die Signale, die auf eine große Gefahr hingedeutet hatten, nicht empfangen oder schlecht verarbeitet wurden. Was naheliegen würde, geschieht indes nicht: etwas gegen die Fragmentierung der Sicherheitskräfte zu tun, die mit dem wallonisch-flämischen Streit zusammenhängt. Eine Fusion der sechs verschiedenen Polizeibehörden im zweisprachigen Brüssel bleibe "tabu", schreibt De Standaard. Flämische Politiker würden die Gelegenheit gern für diesen Schritt nutzen, so das Blatt, aber die französischsprachigen Politiker der Hauptstadt liefen dagegen Sturm. Ähnliches gilt für eine Annäherung der 19 mehr oder weniger unabhängigen Teilstädte, aus denen sich Brüssel zusammensetzt. Wie viele belgische Blätter versucht De Morgen die Politiker aber auch in Schutz zu nehmen gegen manche vielleicht allzu wohlfeile Kritik aus dem Ausland: Der Großraum Brüssel sein nun einmal "eine der offensten Regionen der Welt" und entsprechend schwierig zu schützen.

Alle Zeitungen schreiben nun täglich über Molenbeek, über seine Bewohner, über ihre Angst vor der Stigmatisierung. Oft fällt der Name Philippe Moureaux. Der Sozialist war von 1992 bis 2012 Bürgermeister von Molenbeek, ihm wird vorgeworfen, die Radikalisierung der Einwandererjugend zugelassen zu haben und viel zu nachlässig gewesen zu sein. Von Klientelwirtschaft ist die Rede, gar von einem "System Moureaux". Solche Vorwürfe werden in Belgien allerdings immer sehr rasch erhoben. Er habe sicher auch Fehler gemacht, verteidigt sich der Angegriffene in der wichtigsten frankophonen Tageszeitung Le Soir, aber insgesamt sei seine Politik doch richtig gewesen.

Le Soir fragt auch, ob Belgien gerade eine neue "Dutroux-Affäre" erlebe. Vor 20 Jahren konnten Marc Dutroux und seine Frau monatelang unentdeckt Kinder in ihren Häusern verstecken, missbrauchen und töten. Auch damals wurden Polizei und Behörden schweres Versagen, ja Verschwörung vorgeworfen, eine Staatskrise zog herauf. Belgien habe keine Kultur des Umgangs mit Geheiminformationen entwickelt, konstatiert Le Soir: Dem Premier werde der PC aus dem Auto gestohlen, im Innenministerium gingen Geheimdokumente verloren, Minister verschickten Tweets direkt aus der Kabinettssitzung.

Unter den Brüsselern geht derweil spürbar die Angst um. Ständig erleben sie Razzien, Großveranstaltungen werden abgesagt, die Straßen sind leerer. Laut einer Umfrage von La Capitale befürchten 76 Prozent der Bürger Anschläge in Brüssel.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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