Mehrheitsfindung in der Koalition:Rote Karten und Zigarrenqualm

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Was als Schicksals-Tag über die Zukunft der Koalition beginnt, endet mit einem Gähnen des Außenministers.

Von Nico Fried

(SZ vom 27.09.2003) — Gerhard Schröder muss warten. Und weil er offenbar keine Lust hat, den Horden von Journalisten auf den Fluren des Parlaments Interviews zu geben, hat sich der Kanzler mit einigen Vertrauten und seiner Gattin Doris in sein Zimmer im Reichstag zurückgezogen.

Es dauert eine knappe halbe Stunde, bis das Telefon seiner Büroleiterin klingelt. Die Auszählung ist beendet. Die rot-grüne Koalition hat 297 Stimmen zusammengebracht. "Das ist in Ordnung", sagt Schröder, wenn man dem Bericht eines Zeugen glauben darf.

Es ist nicht einfach zu verstehen, was sich an diesem Vormittag im Bundestag abspielt. Soeben ist über die Gesundheitsreform abgestimmt worden, und sehr wahrscheinlich wird keine andere Reform mehr mit einer so großen Mehrheit verabschiedet wie diese. Weil das Gesetz auf einem gemeinsam ausgehandelten Konsens beruht, stimmt ihm nämlich auch die Union bis auf wenige Ausnahmen zu.

Trotzdem wünschen der Kanzler und die übrigen Spitzen der Koalition das, was sie eine eigene Mehrheit nennen, damit nicht der Eindruck entsteht, sie wären auf die Hilfe der Opposition angewiesen.

Das Problem - und als solches auch das beherrschende Thema - ist allerdings die Frage: Was ist eigentlich eine eigene Mehrheit? 603 Abgeordnete hat der Bundestag, 306 von ihnen haben ein Parteibuch von SPD oder Grünen. Würde an diesem Tag der Kanzler gewählt, bräuchte er 302 Stimmen. Nun wird er aber nicht gewählt - und doch geht es mindestens um eine Art Vertrauensbeweis zu Beginn eines Herbstes, der hart wird für ihn und die Seinen. Sehr hart.

Im Laufe des Tages setzt sich dann eine etwas weniger anspruchsvolle Version der eigenen Mehrheit durch, deren Formel freilich in etwa so kompliziert ist wie die Berechnung eines Rentenanspruchs unter Berücksichtigung des demografischen Faktors: Eigene Mehrheit ist, wenn die Koalition am Ende mehr Ja-Stimmen vorweisen kann als ihre Abweichler plus anwesende Oppositionsabgeordnete zusammen an Nein-Stimmen hätten aufbringen können.

Wie auch immer, die Sache ist dem Kanzler wichtig. Am frühen Morgen hat es Schröder deshalb höchstpersönlich übernommen, die ominöse eigene Mehrheit zu organisieren. Dabei geht er, wie man beim Skat sagt, erstmal über die Dörfer, das heißt, bevor Schröder in der eigenen Fraktion versucht, die Kritiker zu übertrumpfen, empfängt er zunächst drei Zauderer vom grünen Koalitionspartner.

Drei Zauderer

Hans-Christian Ströbele und Winfried Herrmann sitzen da im Kanzleramt. Die zwei kennt Schröder noch, weil sie vor zwei Jahren schon daran beteiligt waren, ihn bei der Abstimmung über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr in die Vertrauensfrage zu treiben. Mit dabei ist auch noch Jutta Dümpe-Krüger, deren Namen Schröder schon vergessen haben dürfte, sobald sich später die Tür wieder hinter ihr geschlossen hatte.

Der Kanzler hört sich an, was die drei zu sagen haben. Dazu raucht er - es ist halb acht Uhr morgens - eine Zigarre, was durchaus bemerkenswert ist, weil es an diesem Tag ja um die Gesundheitsreform geht, und mancher Redner im Bundestag später sagen wird, dass es besser wäre, nicht so viel für Krankheiten auszugeben und dafür mehr für deren Prävention.

Immerhin aber sind die Grünen am Ende der Audienz besiegt. Alle Grünen? Nein, ein Einzelner, der Abgeordnete Werner Schulz, leistet weiter Widerstand. Ihn hat die Einladung des Kanzlers nicht erreicht. Der erklärte Rebell Schulz hatte irgendwann genug davon gehabt, bequatscht zu werden. Sein Trommelfell sei schon wund gewesen, erzählt er, weshalb er sein Handy ausgeschaltet habe.Schulz versteht "den Popanz" sowieso nicht. "Wenn die eine eigene Mehrheit wollen, dann sollen sie eine eigene Gesundheitsreform vorlegen."

So ähnlich denken auch einige in der SPD-Fraktion, wohin der Kanzler nach seinem kleinen Sieg zum Frühstück als nächstes zieht. Dort sieht er sich bemüßigt, an das historische Gedächtnis der Abgeordneten zu appellieren: Die Lage sei in etwa so ernst wie 1982, als die Koalition von SPD und FDP nach einem allmählichen Zerfallsprozess in sich zusammen gebrochen sei.

Zur Abschreckung streift Schröder des weiteren das traurige Schicksal anderer linker Parteien zum Beispiel in Frankreich und Italien, die nicht in der Lage waren, in ihrer Regierungszeit die notwendigen Reformen anzugehen, und nun in aussichtsloser Lage vor sich hindümpeln. Gegen Ende seines Vortrags sagt der Kanzler dann, was er eigentlich sagen will: Wenn es an diesem Tag nicht zu einer eigenen Mehrheit reiche, "dann würde das auf das Ende der Koalition hinauslaufen".

Die Individualisten der SPD

Nun ist es mittlerweile so, dass die Zahl der Individualisten in der SPD entgegen dem allgemeinen Dafürhalten größer ist als bei den Grünen. Fast neidisch hatte ein führender Sozialdemokrat schon vor einigen Tagen prophezeit, dass der kleine Koalitionspartner wohl "stehen" werde, die eigenen Leute aber nicht. Und genau so kommt es auch.

Die Abgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk zum Beispiel bleibt bei ihrem Nein, weil sie nicht einsehen will, dass sie einer Reform zustimmen soll, die sie ablehnt und für die ihre Stimme gar nicht gebraucht wird. Später bei der Abstimmung kokettiert sie sogar ein bisschen, indem sie auf dem Weg zur Wahlurne mit ihrer Ja-Karte wedelt, um dann im letzten Moment doch die andere zu ziehen.

Fünf weitere SPD-Abgeordnete entscheiden sich ebenfalls für die rote Karte, die meisten von ihnen aus Bayern. Das wirkt wie eine nachträgliche Rache für die Wahlniederlage vor knapp zwei Wochen, die man bei der Freistaats-SPD vor allem Schröder in die Schuhe geschoben hat.

Die eigentliche Debatte ist im Übrigen keiner ausführlichen Erwähnung wert. Wie Laienprediger in der Kirche lesen die Gesundheitsexperten der Fraktionen ihre Texte ab, wobei die Mikrofonanlage im Reichstag das Gesagte noch zusätzlich verödet. Nur der CDU-Abgeordnete Wolfgang Zöller erregt kurze Heiterkeit, weil er sich für gesunde Ernährung einsetzt und gleich hinzufügt: "Sie brauchen mich gar nicht so anzuschauen, ich weiß, dass ich zu dick bin."

Gelangweilter Fischer

Schnell setzt deshalb nach der Abstimmung wieder die alte Diskussion ein, ob denn nun die eigene Mehrheit eigentlich erreicht worden sei. Nur einer ist davon sehr gelangweilt: Joschka Fischer, der sich ins Bundestags-Restaurant zurückgezogen hat. Fischer ist am Vortag aus New York zurückbeordert worden. Dem Kanzler waren die Dienste des Abgeordneten wichtiger als die des Außenministers. Schon zuvor auf der Regierungsbank hat Fischer völlig übernächtigt die freundliche Begrüßung seiner Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt nur mit wenigen Worten aber zwei langen Gähnern beantwortet.

Nun knurrt er vor sich hin, die Verlierer säßen doch eindeutig in der Union, weil deren Führung nicht einmal genug Abgeordnete mobilisiert habe, um die Regierung überhaupt in Bedrängnis zu bringen. Tatsächlich fehlten gut zwei Dutzend Unionisten. Geradezu beleidigt, dass er sich dafür die Nacht über dem Atlantik um die Ohren geschlagen hat, sagt Fischer: "Von Opposition verstehen die auch nix."

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