Leoluca Orlando:Der gute Pate von Palermo

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Er bekämpfte die Mafia und öffnete Sizilien für die Moderne - warum einer, der längst zum Mythos geworden ist, nochmal Bürgermeister werden möchte.

Stefan Ulrich

Wenn Leoluca Orlando wissen will, ob ihn das Volk noch liebt, schickt er seine Frau Milli los. Die Signora zeigt sich kaum an der Seite ihres Mannes in der Öffentlichkeit. Sie führt ein normales Leben, fährt mit dem Bus, kauft auf den Straßenmärkten Palermos ein.

Niemand erkennt sie, und so kann sie im Gespräch mit den Leuten ungeniert über Orlando herziehen. Das Ergebnis ist stets das gleiche. Die Menschen widersprechen der Signora, beschimpfen sie und rufen: "Halten Sie doch den Mund, Sie kennen Leoluca Orlando ja überhaupt nicht." Wieder zu Hause berichtet Frau Orlando dann ihrem Mann: "Du kannst beruhigt sein. Alle haben dich verteidigt."

Die Stadt ist wie eine Geliebte

"Sie ist meine beste Spionin", sagt der Mann mit den schweren, etwas müden Zügen und den melancholischen Augen. Dann lächelt er. "Ich habe eine morbide, geradezu körperliche Beziehung zu dieser Stadt. Sie ist wie eine Geliebte, die ich für einige Jahre verlassen habe. Nun kehre ich zu ihr zurück." Bei der Wahl am Sonntag und Montag möchte Orlando an der Spitze eines Links-Bündnisses wieder Bürgermeister Palermos werden.

Viele fragen sich, warum sich der 59 Jahre alte Juraprofessor, Parlaments-abgeordnete, Buchautor, Vortragsreisende und international berühmte Anti-Mafia-Kämpfer diese Wahlschlacht gegen das Stadtoberhaupt Diego Cammarata von Silvio Berlusconis rechter Partei Forza Italia antut.

Was er bei diesen Kommunalwahlen noch gewinnen könne. Schließlich hat er die Stadt zwischen 1985 und 2000 bereits drei Mal regiert. Dabei gelang es ihm, vom Kommunalpolitiker zum Mythos zu werden. Orlando wurde Heldengestalt im Kampf gegen die Mafia, das Symbol des "Frühlings von Palermo", der gute Pate der verwahrlosten Metropole Siziliens.

Kinder schützen ihn

In jenen Jahren hauchte Orlando Furioso, der "Rasende Roland", wie er genannt wird, der fatalistischen Stadt Hoffnung ein. Er ließ Kirchen und Paläste renovieren, Parks anlegen, Straßen beleuchten, Museen eröffnen und schaffte so heile Inseln in der von Armut und Verfall zerfressenen Altstadt. Und er hämmerte den Menschen ein: Die Mafia ist nicht eure Identität - sie pervertiert eure Identität. Die Cosa Nostra räumte ihm dafür den Spitzenplatz auf ihrer Abschussliste ein. "Wandelnde Leiche" wurde er genannt.

Der aus altem Adel stammende Bürgermeister überlebte - zu seiner Überraschung. Seine Popularität habe ihn geschützt, besser noch als die Leibwächter. "Wenn ich in die Trabantenstädte zu den Menschen ging, und die Kinder kamen und umarmten mich, dann wagte es die Mafia nicht, mich zu töten." Zur Krönung seiner Ära wurde 1997 die Wiedereröffnung des Jahrzehnte geschlossenen Jugendstilbaus Teatro Massimo, eines der schönsten Opernhäuser Europas.

Drei Jahre später war für Orlando das Spiel in Palermo erst einmal aus. Das Wahlgesetz verbot ihm die sofortige Wiederkandidatur, so musste er den Palazzo delle Aquile, das Rathaus, einem anderen überlassen. Er schrieb Bücher, reiste und versuchte, in der nationalen Politik in Rom Fuß zu fassen. Mit dürftigem Erfolg. Orlando blieb der ersehnte Ministerposten in der Linksregierung von Romano Prodi verwehrt. Ihm erging es ein wenig wie Michail Gorbatschow: Im Ausland, besonders in Deutschland, gefeiert - zu Hause an den Rand gedrängt.

In Palermo aber hat "u sinnacu", der Bürgermeister, wie Orlando noch immer angesprochen wird, seinen Zauber behalten. Das zeigt sich auf dem ältesten Straßenmarkt, dem quirligen Ballarò im Centro Storico. Im Gegensatz zur nahen Vucciria ist der Ballarò noch nicht zum Theatermarkt für Touristen geworden.

Die Händler haben vor ihren höhlenartigen Läden aufgebaut, was die Menschen brauchen. Artischocken und Turnschuhe, Käse und Jeans, Klopapier, Bier, Rindsleber und Handtaschen. Markisen und Plastikplanen hängen so dicht über den gewundenen Gassen, dass kaum Sonnenlicht eindringt.

Vor den Bierschenken sitzen Männer und werfen mit kehligen Rufen Spielkarten auf die Tische. Mit hellem Knall lassen die Metzger eines Ladens namens "Fleisch-Phantasien" ihre Hackmesser auf die Bretter krachen. Ab und an knattert ein Bursche mit schwarzer Sonnenbrille auf dem Moped durch die Menge.

"Der beste Bürgermeister, den Palermo je hatte"

Francesco, wie er sich vorstellt, ist einer der Händler des Ballarò. Auf die Politik angesprochen, kommt er in Fahrt. Er sei ein Fan des Oppositionsführers Berlusconi, sagt der junge Mann mit dem schwarzen Bart. Von der Linksregierung unter Romano Prodi halte er überhaupt nichts. "Seit Prodi an der Macht ist, sind allein meine Rentenbeiträge um 400 Prozent gestiegen", behauptet Francesco und erklärt: "Wir Sizilianer stehen traditionell rechts. Wir haben Angst vor der Linken. Denn sie zerstört alles."

Die Wahlergebnisse der Vergangenheit bestätigen diese Haltung. So fielen bei der Parlamentswahl 2001 sämtliche 61 in Sizilien zu vergebenden Direktmandate an Berlusconis Lager. In Palermo sahen die Umfragen der vergangenen Monate die rechten Parteien bei 60 Prozent, während die Linke auf 40 Prozent kam.

Ein Bürgermeister-Kandidat der Linken ist demnach chancenlos - es sei denn, er heißt Leoluca Orlando. Über ihn gerät Francesco ins Schwärmen: "Das ist ein großartiger Mann. Der beste Bürgermeister, den Palermo je hatte." Daher sei er hin- und hergerissen. Einerseits hoffe er, dass Orlando wieder Stadtoberhaupt werde, andererseits sei er doch gegen die Linke. "Würde Orlando für die Rechte antreten, bräuchte man gar nicht wählen zu lassen", meint Francesco. "Dann bekäme er locker 80 Prozent."

Der Rivale ist für Orlando der "Nicht-Bürgermeister"

Der Noch-Bürgermeister Cammarata dagegen sei ein Nichtstuer. Er stehe am Tag auf dem Tennisplatz und ziehe Abends durch die Kneipen. Im Rathaus sei er selten, für das Volk interessiere er sich kaum. "Orlando habe ich als Bürgermeister viel auf der Straße bei den Menschen gesehen - aber nie in einer Bar."

Ähnliches ist oft zu hören. Orlando weiß daraus Kapital zu schlagen. Er nennt seinen Rivalen nur den "Non-Sindaco", den Nicht-Bürgermeister. Unter Cammarata sei nichts vorangegangen. Sollte er, Orlando, siegen, werde er aus dem Frühling von Palermo einen Sommer machen.

Orlando residiert in der Via Dante, in einer der schönsten Liberty-Villen der Stadt. Hinter den Eisentoren führt ein Kiesweg zwischen Palmen und Gummibäumen zum Eingang. Dort begrüßt ein Schwager Orlandos den Besucher und führt ihn an riesigen, halbdunklen Hallen voller Kunstgegenständen vorbei in das kleine Arbeitszimmer des Kandidaten.

Er sehe Orlando kaum, sagt der Schwager, der zu Besuch ist. "Wenn überhaupt, dann morgens beim Espresso-Trinken. Für 30 Sekunden. Dann ist er den ganzen Tag unterwegs, und Nachts kommt er erst gegen zwei Uhr nach Hause." Wahlkampfzeiten eben?" Nein, er ist immer so. Er liebt dieses rastlose Leben, und er hat eine wahnsinnige Energie." Außerdem wolle er immer der Chef sein. Daher sei er in der nationalen Politik nicht glücklich geworden. "Orlando ist eben lieber in Palermo der erste als in Rom der zweite."

"Ich will der Boss in der Stadt sein"

Kurz darauf eilt der rasende Roland herein und setzt sich vor den Schreibtisch. Er kommt sofort zur Sache. In Italien tauge der Staat wenig, meint er. Die Stärke des Landes liege in den Regionen. "Mein Ehrgeiz ist es, Palermo zur wettbewerbsfähigsten Region südlich von Rom zu machen."

Dafür müsse die neue Mafia bekämpft werden, die sich heute mit weißen Krägen und schicken Autos präsentiere, mit Wirtschaft und Politik verschmelze. Doch der Kampf gegen die Cosa Nostra reiche nicht. Sizilien müsse "alphabetisiert" werden, den Anschluss an die Moderne finden, sich Europa und der Welt öffnen.

"Wenn heute eine sizilianische Delegation ins Ausland fährt, spricht keiner eine Fremdsprache und alle fragen sofort nach dem nächstgelegenen sizilianischen Restaurant", spottet Orlando. "Das verstehe ich unter Analphabetismus."

Ein Politiker-Philosoph

Der herzliche Mann, der da zwischen turmhohen Bücherstapeln in der verwohnten Villa sitzt, kann wunderbar philosophieren, über Ethik und das innere Wachstum, über die Kraft der Kultur und die Identität der Sizilianer. Er flicht Gedanken von Voltaire, Marx oder Heidegger ein, erzählt von Begegnungen mit Hillary Clinton, dem Dalai Lama und Günter Grass.

Ein Politiker-Philosoph, denkt man, und wundert sich, wieso er gerade in Palermo, der heimlichen Hauptstadt der Mafia, Erfolg hat. Da zeigt der Professor ein zweites Gesicht: "Ich will der Boss in der Stadt sein", sagt er, und fügt einen Satz an, der rätselhaft klingt: "Ich bin so etwas wie der Berlusconi von Palermo."

Herr für die Hündin

Was er meint, wird beim größten Wahlkampfauftritt Orlandos deutlich, einer Rede im Palasport, einer riesigen Halle am Rand der Stadt. Um sie zu füllen brauchte Cammarata am Vorabend die Hilfe des großen Populisten Berlusconi. Orlando dagegen schafft das allein. Überall hängen Plakate mit seinem Gesicht - sonst nichts, keine Sprüche, keine Parteiembleme.

Keine politische Organisation soll sich zwischen ihn und Palermo schieben. Winkend zieht er schließlich in den Palasport ein, um sich binnen Minuten in Schweiß zu reden und die Halle zum Brodeln zu bringen. "Wir sind hier, weil wir unsere Stadt lieben", brüllt er in den Saal und lässt immer wieder die Worte "wir", "Palermo" und "Palermitaner" auf die Menge niedergehen. "Wir müssen ein großes Palermo bauen. Wir wollen stolz sein, Palermitaner und Weltbürger zu sein."

Als Bürgermeister die Seele der Stadt verkörpern

Wenn er auf den "Non-Sindaco" zu sprechen kommt, schüttelt Orlando wütend den Kopf, verstärkt noch einmal die Bariton-Stimme, klagt an, unter Cammarata sei die Stadt "in Italien und der Welt unsichtbar geworden". Das werde er, Orlando, wieder ändern. Wenn er siege, würden alle siegen, denn als Bürgermeister werde er die Seele der Stadt verkörpern.

Seine erste Amtshandlung am Mittwoch werde es sein, "die Tore des Palazzo delle Aquile wieder zu öffnen". Zum Abschluss schreit Orlando: "Viva Palermo, viva Santa Rosalia" - so heißt die Stadtheilige. Die Menge tobt. Berlusconi hätte das nicht besser hingekriegt.

Unter den Tausenden im Saal war auch der Schriftsteller Roberto Alajmo, einer der klügsten jungen Autoren Siziliens. Nun sitzt er auf einer Terrasse seiner Villa in Mondello, dem Jugendstil-Badeort bei Palermo, und blickt durch Palmenwedel auf den Strand und das Meer.

Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde

"Leoluca Orlando ist eine sehr komplexe Persönlichkeit", sagt er. "Ich wollte immer einen Roman über ihn schreiben, aber ich schaffe es nicht, weil er sich ständig verändert." Dann greift Alajmo doch zu einem literarischen Bild. Orlando sei wie die Doppel-Persönlichkeit in Louis Stevensons Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Er habe eine lichte und eine dunkle Seite: Einerseits sei er "ein großer Intellektueller und hervorragender Verwalter der Stadt".

Paradoxerweise würden ihn die Palermitaner aber nicht deswegen wählen, sondern sie schätzten den demagogischen Volkstribunen und Patriarchen in ihm. "Palermo ist wie eine Hündin", sagt Alajmo. "Es will einen starken Herrn, ob er nun Berlusconi oder Orlando heißt." Nun hoffe er, dass Orlando, falls er gewählt wird, keine falschen Kompromisse eingehe und mit starker Hand regiere. "Das ist die letzte Chance, dass sich Palermo entwickelt."

Das klingt pessimistisch, vielleicht zu pessimistisch. Denn hat der Frühling von Palermo die Stadt nicht verändert? Ist die Altstadt nicht sicherer und schöner? Bummeln die Menschen nicht, ganz anders als vor zwei Jahrzehnten, bis tief in der Nacht auf den Straßen? Gibt es nicht das Teatro Massimo, schicke Weinkneipen, Galerien, Boutiquen?

Alajmo wiegt den Kopf. "Sicher, die Stadt hat sich verwandelt, und diesen Prozess hat Orlando angestoßen. Aber vieles ist nur Fassade, Maskerade." Palermo sei noch immer ein Ort, an dem man verzweifeln könne. Wer mit offenen Augen durch die Stadt laufe, werde das nicht übersehen.

Stadt voller Widersprüche

Tatsächlich zeigt Palermo Widersprüche, die an Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnern. Nur dass sich Licht und Schatten nicht in einer Person finden, sondern auf einem Platz, einer Gasse, ja in einem Haus. Wer durch die Viertel um den Corso Vittorio Emanuele und die Via Maqueda streift, stößt auf liebevoll restaurierte Barock-Paläste, herrliche Stadtgärten wie den Giardino Garibaldi, quirlige Trattorien wie die legendäre, 170 Jahre alte Focacceria San Francesco mit ihren Schwertfisch-Rouladen und blühende Kulturzentren wie die ehemalige gotische Kirche Santa Maria dello Spasimo.

Und dann, eine Ecke weiter, öffnet sich ein Bild des Verfalls, als habe da ein Hieronymus Bosch die Kulisse entworfen. Da stehen Häuserstrünke noch so, wie sie die alliierten Flächenbombardements 1943 zurückließen, da hängen verrottete barocke Balkongitter vor vermauerten Fenstern, sind Fassaden mit Drahtgitter überspannt, damit keine Brocken auf die Straße fallen. Etliche Häuser sind ganz eingerüstet - nicht weil sie renoviert werden, sondern damit sie nicht einstürzen. Und mit Müll bedeckte Gassen sind für Fußgänger gesperrt - sie könnten sonst von Trümmern erschlagen werden.

In unmittelbarer Nachbarschaft überrascht ein herausgeputztes Dachgeschoss auf einem sonst leeren Haus, eine liebevoll restaurierte Barockkirche, eine cool gestylte Bar. Sind das die Frühlingszeichen, die den Sommer verheißen? Oder nur trotzige Lichtpunkte im Verfall?

"Es ist klar, dass noch viel zu tun ist"

Nach einem verwirrenden Tag im Centro Storico tut es gut, auf einen Mann zu treffen, der das Gesamtbild im Blick hat. Maurizio Carta war mit 28 Jahren Professor, nun, mit 40, ist er der jüngste Ordinarius für Urbanistik Italiens. Er hat unter Orlando und unter Cammarata gearbeitet und will es sich mit keinem verscherzen. "Sie haben etliches vorangebracht", sagt der Städteplaner, "aber es ist klar, dass noch viel zu tun ist."

Nun gelte es, die Einzelprojekte zu einem großen Ganzen zu runden. So sei zwar das Altstadtzentrum wiederbelebt worden, dafür habe man aber die Außenbezirke der 700.000-Einwohner-Stadt vernachlässigt. Eisenbahntrassen zerschnitten Stadtteile, und die Wasserfront werde von wuchernden Hafenanlagen besetzt.

Es kann nur einen geben

Da will Carta nun ansetzen, mit einem "Strategischen Plan für die Kapitale Palermo". So schlägt er vor, die Stadt zum Meer hin zu öffnen, wie das Barcelona gelang. Zugleich solle Palermo mit einem modernen Hafen und Spitzen-Universitäten wieder zu dem wirtschaftlichen und geistigen Zentrum des Mittelmeerraums werden, das es in der Geschichte schon war, etwa unter dem Staufer-Herrscher FriedrichII.

"Heute gibt es auf der Welt immenses privates Kapital, das nach Palermo fließen kann, wenn wir überzeugende Projekte schaffen", sagt Carta, während er seinen schwarzen BMW durch den Abendverkehr steuert. "Vor 25 Jahren war Palermo eine Stadt der Angst." Seinerzeit sei es für junge Burschen wie ihn eine Mutprobe gewesen, abends durch die Altstadt zu laufen. "Diese Zeiten sind vorbei. Palermo ist sicherer und selbstbewusster geworden. Wir sind eine Stadt mit Ambitionen."

Ambitionen hat auch Leoluca Orlando. Der Großvater dreier Enkel könnte sich ja auf seinem Mythos ausruhen. Reisen, schreiben, Vorträge, Geld verdienen - wie viele Ex-Politiker. "Manchmal frage ich mich schon: Warum mache ich das noch einmal, warum kandidiere ich wieder?", sagt er. Dann rede er mit seiner Frau Milli. Die antwortet: "Leoluca, begreife doch endlich: Du bist der Bürgermeister von Palermo. Du hast keine Alternative."

© SZ vom 12.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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