Legenden:Wir tauchen vor Madagaskar

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Ein Schatzsucher will das Silber des legendären Piratenkapitäns William Kidd gefunden haben. Die Vermarktung der Geschichte dürfte mehr wert sein als der Fund.

Von Lothar Müller

Früher waren die Schatzsucher, vor allem in Romanen, mit verschlüsselten Karten unterwegs und scheuten sich nicht, versprengte Piraten in ihre Besatzung aufzunehmen, wenn sie zu einer Schatzinsel ausliefen. Heute sind die Schatzsucher mit hochsensiblen Ortungsgeräten, der modernsten Tauchausrüstung und Unterwasserkameras unterwegs, und an die Stelle der Romanciers sind die Filmteams von Discovery Channel getreten.

Einer der prominentesten Schatzsucher der Gegenwart ist Barry Clifford, geboren 1945 auf der Halbinsel Cape Cod an der amerikanischen Ostküste und seit Jahrzehnten im Geschäft. Er trat jetzt mit einem fünfzig Kilogramm schweren Silberbarren vor die Kameras, den er nahe der Insel Sainte-Marie vor der Ostküste Madagaskars aus einer Bucht geholt hat, in der gut ein Dutzend Schiffswracks am Meeresgrund liegen. Das Silber, glaubt er, stammt aus dem berühmten Schatz des schottisch-amerikanischen Piraten William Kidd. Clifford übergab den Barren in Anwesenheit von Repräsentanten der Vereinigten Staaten und Großbritanniens dem madagassischen Präsidenten Hery Rajaonarimampianina.

William Kidd, der am 23. Mai 1701 in London im Gefängnis Newgate gehenkt wurde, war eine der vielen Schatten- und Überläuferexistenzen im Zeitalter der Expansion des europäischen Kapitalismus, ein Kaufmann und Familienvater, aus dem der Pirat erst heraustrat, als er von englischen und amerikanischen Finanziers und ihren politischen Verbündeten in den Indischen Ozean geschickt wurde. Er sollte dort eigentlich das Geschäftsfeld der East India Company sichern, gegen die Konkurrenz und die Seeräuber.

Seinen Ruhm verdankte Kidd nicht nur seinen Taten als Pirat, sondern auch einem neuen Medium. Seit dem frühen 17. Jahrhundert gab es Zeitungen, sie berichteten gern über Prozesse, Piraten und Mörder. Später stellte Edgar Allan Poe Kidds Schatz ins Zentrum einer Erzählung, und schließlich wurde "Captain Kidd" zu groß für die Literatur allein. Er wuchs in Film, Fernsehen, Video- und Computerspiel hinein. Der Silberbarren ist darum ein doppelter Schatz. Clifford kann ihn leicht hergeben, weil es ihm auf den zweiten Schatz ankommt: das Geld, das in der Vermarktung der Geschichte der Entdeckung steckt.

Vor zwei Jahren hat Clifford behauptet, das Wrack der Santa Maria gefunden zu haben, mit der Kolumbus im Dezember 1492 auf Grund lief. Im Oktober 2014 veröffentlichte die Unesco ihren Untersuchungsbericht, der das nachdrücklich dementierte. Auch jetzt meldet sich die Kulturorganisation der Vereinten Nationen zu Wort. Diesmal nicht mit Zweifeln am Befund: Es kann gut sein, dass das Silber von der Adventure Galley stammt, die Clifford schon vor Jahren bei der Pirateninsel Sainte-Marie geortet hat. Die Kritik einer Sprecherin gilt der Unterordnung der wissenschaftlichen Interessen der Unterwasserarchäologie bei der spektakulären Inszenierung einer erfolgreichen Schatzsuche: "Im Grunde war es ein Filmteam, das sich an einer archäologischen Fundstelle zu schaffen machte." Experten der Unesco waren auf Ersuchen Madagaskars schon unterwegs.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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