Lebensmittel-Skandal:Riech den Braten

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Fleisch ist obszön, Fleisch ist roh, Fleisch ist böse - Zehn letzte Worte für die fleischverbrauchenden Kreise.

Willi Winkler

I.

Ein Kontolleur vom Veterinäramt prüft die Temperatur der Schweinehälften. (Foto: Foto: dpa)

Jonathan Swift, der Dean von St. Patrick's in Dublin, brachte 1729 einen "Bescheidenen Vorschlag" heraus, wie die Hungersnot in Irland und zugleich die allgemeine Armut zu beheben wären.

Swifts Plan geht in Kürze dahin, dass man die viel zu vielen irischen Kinder von ihren ohnehin zumeist ledigen Müttern gegen eine mäßige Zuchtprämie ein Jahr lang dick und rund nähren lassen solle, um die Babys dann den reichen Landbesitzern zum Fraß vorzulegen, die sich doch schon beim Ruinieren der Landbevölkerung hervorgetan hätten. "Nichts kommt im Geschmack einem gut gezogenen, fetten Einjährigen gleich, und als Ganzes geröstet würde er das Bürgermeistermahl oder jede andere öffentliche Lustbarkeit schmücken."

Rezepte für die Zubereitung gingen daraufhin in der Gesellschaft von Hand zu Hand, sie steigerten die Lebensart, die Frauen wetteiferten sogar mit Einladungen zum zartesten Braten, und bei den Armen gaben die Männer endlich mehr Acht auf ihre schwangeren Frauen, weil durch die ja nun Geld in den Haushalt komme. Außerdem, so ging der rohe Ulk, ließen sich aus der samtigen Haut der Kleinen zierliche Handschuhe für die Dame und Stiefeletten für den Herrn fertigen.

II.

Fleisch ist obszön, Fleisch ist roh, Fleisch ist böse. Fleisch macht die Männer wild und brandrodet den Regenwald. Fleisch ist aber vor allem ein Wirtschaftsfaktor, nährt nicht bloß die Bevölkerung, sondern auch die fleischverarbeitende Industrie, die deshalb nie um die rechte Propaganda verlegen war.

"Der Fleischgenuss" - so erläutert es eine Broschüre, die eine Hamburger Handelsgesellschaft namens "Produktion" 1927 für die "fleischverbrauchenden Kreise" herausbrachte - "befähigt den Menschen zu einer immer stärkeren Anspannung der Geistes- und Körperkräfte und zu einer besseren und schnelleren Anpassung an die mit der fortschreitenden Kultur auf allen Gebieten immer größer werdenden beruflichen Anforderungen und an den immer heftiger sich auswirkenden Kampf ums Dasein."

Der Kampf ums Dasein, das ist seit biblischen Tagen ausgemacht, ist unfair, und darum triumphiert der Mensch. Er solle sich die Erde untertan machen, wurde dem Ersten seiner Art von seinem Schöpfer aufgetragen. Das dürfte so ziemlich das einzige Gebot sein, mit dem der Erdling nie Mühe hatte.

Davor lag der Sage nach im Paradiesgärtlein das Lamm beim Löwen, und sie taten sich nichts, sondern kuschelten wie eine Wohngemeinschaft der mittleren 70er Jahre auf dem Flokati-Teppich, während aus den Riesenboxen das "Köln Concert" von Keith Jarrett tropfte.

Das Eidyllon wurde erst mit der Vertreibung aus diesem sagenhaften Paradies zerstört. Der Mensch erkannte nicht bloß, dass er nackt, sondern vor allem: Dass er irre hungrig war. Eben noch sollte der Bär und selbst der Auerochs ein Bruder sein, jetzt - hier stehe ich, dort er, ich kann nicht anders! - schlug er ihm schon den Schädel ein.

Der Kampf ums Dasein hatte begonnen. Und er versprach mörderisch zu werden.

III.

Nach Väter Sitte ist jeder sein eigner Großwildjäger. Er schießt das Wild nicht mehr, aber immerhin jagt er noch nach dem billigsten Stück Fleisch, um es, nicht anders als der Ahn, in die Höhle zu schleppen, wo es so lang gekocht wird, bis ihm nichts Menschliches mehr eignet. Fleisch soll keines sein.

In der Wandersage macht immer wieder der Finger die Runde, der sich bei McDonald's oder sonst wo im Fleischaustauschstoff gefunden haben soll und einem ahnungslosen Esser einen bleibenden Schaden zugefügt hat, der nur gegen ein Schmerzensgeld von exakt 4,3 Millionen Dollar, zahlbar an ohnehin überversorgte Anwälte, gutzumachen wäre.

Es handelt sich dabei um eine klassische Moritat, denn ein bisschen schämt sich der Mensch dann doch, dass er die lieben Verwandten, die so lieb schauen können, einfach auffrisst, um selber zu überleben (oder wenigstens über den Winter zu kommen). Hin und wieder will er daran erinnert sein, dass der denaturierte Lappen, der über den plexigläsernen Nieß-Schutz beim Metzger gereicht wird, Fleisch ist vom Fleische seines Bruders Tier.

Wenn's nur so wäre: Am Ende der Evolution stehen Fleischpastete und der Abfallsack für alle Fälle: die Wurst, gütegesiegelt von eingekauften Experten und entsprechend geschmacklos. Nichts mehr erinnert an das Tier, das dran glauben musste. Eintausendfünfhundert Wurstsorten gibt es in Deutschland, und ganz gewiss ist es von Vorteil, wenn diese Entsorgungstüten auf lauter wohlklingende Namen hören.

Fleisch, dass auch als solches erkennbar ist, wollen die Verbraucher lieber nicht sehen. Das waren übrigens Lämmer. (Foto: Foto: ddp)

Mehl, Soja, Milcherzeugnisse und Eier sind als Streckmittel zwar verboten, aber da die Wurst nicht anders als die Nutte auf St. Pauli ansprechend sein muss und eventuell wochenlang im Supermarkt herumlungert, wird sie mit Nitrit, Salpeter, Phosphat und allerlei Farbbeimengungen so rotbunt frisiert, wie es die wöchentlichen Postwurfsendungen an alle Haushalte ab Donnerstag versprechen.

Daneben gammelt das Fleisch, aber auch nach 14 Tagen Tiefkühltruhe hat es jenes "Moralisch-Rosa" nicht eingebüßt, das Siegfried Kracauer in den 20ern auch bei den dienernden Angestellten auffiel.

IV.

Aus alter Gewohnheit kommen Hunde und Katzen in Deutschland nicht auf den Tisch, und auch sonst muss es ihnen an nichts mangeln. Wenn ihr Bellen zu heiser klingt, wird der Tierpsychologe zu Rate gezogen, und wenn beim alten Schmusekater die Zähne nicht mehr mitmachen, gibt es wie im Collegium Augustinum Breichen, aber nach Katzenart und als Whiskas die Untergruppe "Whiskas Senior".

Von diesem Nährwert wird mancher favello da unten in São Paulo träumen, wenn er der räudigen Katze einen ausgetrockneten Dreckbatzen nachwirft. Diese Affenliebe fürs Haustier lässt man die anderen entgelten. Rinder, Schweine, Hühner werden nur im Blick auf ihre Verwertung gezogen, drum heißen sie schließlich das Nutzvieh.

Pro Jahr und Kopf verspachtelt der Deutsche 90 Kilo Fleisch- und Wurstwaren. Es waren schon mal mehr, und so was kränkt die Betriebsberater, die immer Abläufe vereinfachen, Bürokratien abbauen und den Umsatz steigern müssen. Vor und nach der Globalisierung muss folglich mehr produziert werden, als überhaupt gegessen werden kann. Das macht das Fleisch zwar noch schlechter, hält aber die Preise auf dem Vorkriegsniveau.

Das Mitleid mit der geschundenen Kreatur, das Nietzsche einst um den Verstand brachte, ist ein hochzivilisatorisches Luxusgefühl und wird einem erleichtert durch die Distanz zum Produktionsprozess. So wie nicht wenige Stadtkinder keine Kuh erkennen würden, wenn sie eine leibhaftige vor sich hätten, legen ihre Eltern größten Wert darauf, von den Naturalien verschont zu bleiben.

Das Zertifikat neben der Fleischtheke, das beteuert "Unsere Produkte (Produkte!) stammen nur aus kontrollierten Betrieben", lässt die Kirche im Dorf und das Vieh weit weg. Hauptsache, man muss dem Tier nicht ins brechende Auge schauen.

V.

Wer vom Land kommt, neigt nicht zur Sentimentalität. Und doch ist meine Seele heut noch wund, weil mein Vater vor 42 Jahren fünf Monaten zwei Wochen und drei Tagen meinen Lieblingshasen (schwarz, ganz und gar schwarz, und nur vorn im Gesicht eine Blesse) geschlachtet hat.

Der tote Hase kam auf den Tisch, aber natürlich. Seinen abgenagten Musikantenknochen habe ich noch lange im Glasschränkchen unterm Kruzifix aufbewahrt. Und, fragen Sie, wie war's? Doch, der Hansl hat gut geschmeckt, und außerdem blieb er ja in der Familie und wurde nicht auf Tiertransportreise quer durch Europa geschickt.

Natürlich habe ich den kreischenden Gockel nicht festhalten können, dem mein Vater mit dem Beil den Kopf abschlug. Also flog das blöde Vieh Blutfontänen spritzend durch den Holzschuppen. Wenigstens hielt der Gockel endlich den Schnabel. Ich weiß auch noch, wie es sich anhört, wenn der Metzger in der hallreichen Schlachtkammer dem angeseilten Kalb mit dem Schlegel die Stirn einschlägt. Das Umbringen ist, wie jeder Henker bestätigen wird, eine hohe Kunst, denn das Opfer soll nicht leiden, sondern gleich tot sein.

Nein, ja, es ist schon besser, man sieht nichts und weiß nichts davon und verbleibt im Stande der Unschuld. Nun wäre es nicht schwer, das Abendland vom Hl. Franz bis zum kaum weniger heiligen Elias Canetti zu bemühen, um der geschundenen Kreatur das Wort zu reden, ihm blumigste Lobreden um die krummen Hörner zu winden und dem lieben Mitwesen liebend übers warmweiche Fell zu streichen.

Dann kann man sich auch seine edlen Gefühle für Bruder Mastschwein und Schwester Rindvieh leisten.

Dem Kunden an der Fleischtheke bleibt der Anblick netterweise erspart, wie das frisch kastrierte Mastschwein blind und dumm die Hoden auffrisst, die man ihm gerade abgesäbelt hat, damit es so schön fett wird, wie das der Satiriker Swift für die irischen Babys empfahl.

VI.

Als der Journalist Upton Sinclair vor hundert Jahren in den Fleischfabriken von Chicago recherchierte, herrschten dort unmenschliche Arbeitsbedingungen, aber schließlich waren es nur Einwanderer, die da hineingeschickt wurden. Die Rinder, die so malerisch durch "Red River" und den Wilden Westen getrieben wurden, kamen in Abilene auf den Zug und gingen in Omaha den Weg alles Irdischen.

Die Menschen, nicht zuletzt die neuamerikanischen Einwanderer, hungerten nach Büchsenfleisch. Da mochte es (aber das dürfte eine weitere Wandersage sein) gelegentlich vorkommen, dass im Eifer der eine oder andere Arbeiter mit in die Dose gehackt wurde. Brecht, der doch laut und deutlich sagte, dass das Fressen vor der Moral käme, hat der nur traurigen Geschichte in der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" klassisches Format zu geben versucht.

VII.

Ein Land, das mehr als ein Jahrzehnt vom Bankier Hermann J. Abs bis zum kleinen Streckenwärter allen Einfallsreichtum darauf verwendete, die Juden zu enteignen und zu entrechten, sie zusammenzutreiben und umzubringen, um dann noch Versuche anzustellen, wie Haare, Zähne und auch die Haut der Opfer möglichst nutzbringend zu verwerten wären, ein solches Land musste unweigerlich auf die Tier-Sentimentalität verfallen.

"Wie können Sie nur so ein Vergnügen daran haben, auf die armen Tiere, die so unschuldig, wehrlos und ahnungslos am Waldrand äsen, aus dem Hinterhalt zu schießen", warf Heinrich Himmler seinem Masseur vor. "Denn es ist, richtig gesehen, reiner Mord", und bei Mord war der Reichsführer SS kompetent.

VIII.

Süß die Nachbarskinder! Als gute Rechtsanwälte und dem Waidmannswerk affine Chirurgen gehen die familienflüchtigen Väter wochenends auf die Pirsch und schießen das Wild daher, gleich wie es ihnen gefällt.

Vor ihren Kindern, den Mädchen zumal, müssen sie es vorläufig noch geheim halten, dass die geliebten Väter eine Parallelexistenz als brutale Tiermörder führen. Die kleinen Herzensvegetarier mampfen tapfer ihr Eiweiß-Ersatzessen, und wenn sie sich über die Trophäen draußen im Flur wundern - vom Rehbock bis zum 18Ender ist alles dabei -, die der Papa im Lauf der Jahre zusammengeschossen hat, erzählt er ihnen notgedrungen ein besonderes Jägerlatein: Die Tiere nämlich, sie gingen zuvor alle am Stock, wirklich! Sie haben quasi Selbstmord begangen, ach, die Ärmsten!

Ja, ja, die Krone der Schöpfung, der Mensch: ist das Schwein.

Das so übel beleumdete Schwein ist übrigens sauber wie der Mensch, und wie wir frisst es alles, was ihm vor die Nase kommt.

IX.

Für Vincent Klink, der das "slow food" propagiert und in seiner Stuttgarter Wielandshöhe auch so kocht, ist es in der Nahrungsindustrie nicht mehr "fünf vor zwölf, sondern längst Viertel vor drei". Die Denaturierung des gesamten Essens hat längst begonnen, und dass jetzt das bisschen Gammel- oder Ekelfleisch die "fleischverbrauchenden Kreise" so erregt, ist allenfalls mit vorweihnachtlicher Rührseligkeit zu erklären.

Schon morgen wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben, auch sie wird geschlachtet, aber vorher durch halb Europa transportiert, zu Tode geängstigt, wertgesteigert und am Ende maßgenau verschnitzelt. Im praktischen 1000-gr-Pack, vakuumverpackt und sanft vor sich hinfaulend, gart das gute Stück seinem Samstagmorgenkäufer entgegen. Gesegnete Mahlzeit!

Die Schweizer haben am vergangenen Sonntag in einer Volksabstimmung das Gen-Food abgelehnt. Kommen wird es trotzdem. Es ist billiger, es ist in ausreichenden Mengen herzustellen, es nährt seinen Mann und dessen Frau und wird Patent-Inhaber und Fabrikanten steinreich machen. Dass es auch noch schmecken würde, wäre wirklich zu viel verlangt.

X.

"Gammelfleisch zieht immer weitere Kreise", meldete dieser Tage ein Radio in Bayern. Wenn das der Führer wüsste! Der hasste die Menschen und liebte deshalb die Hunde. Fleisch hat er nie angerührt, da hatte er seine Grundsätze.

© SZ vom 03.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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