Lebenserwartung:Wer viel verdient, wird älter

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Der SPD-Gesundheitsökonom Karl Lauterbach behauptete vor kurzem, dass Armut das Leben drastisch verkürze. Eine neue Studie des Max-Planck-Instituts bestätigt: Armut verkürzt das Leben - allerdings nicht so stark, wie Lauterbach meint.

Felix Berth

Wer wenig verdient, stirbt früher. Das stellen Wissenschaftler in vielen Ländern seit längerem fest; in Deutschland ließ sich dazu mangels Daten bislang wenig ermitteln. Lediglich der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, der seit der letzten Wahl für die SPD im Bundestag sitzt, behauptete vor kurzem, dass Armut das Leben drastisch verkürze: Wer weniger als 1500 Euro monatlich verdiene, so Lauterbach, habe im Vergleich zu Menschen mit einem Monatseinkommen oberhalb von 4500 Euro eine um neun Jahre verringerte Lebenserwartung.

Wer wenig verdient, stirbt früher - und umgekehrt (Foto: Grafik: SZ)

Die deutschen Demografen hielten sich mit Kritik an Lauterbachs zugespitzten Aussagen zurück; ein wenig Grummeln allerdings ist zu vernehmen, wenn man Sozialwissenschaftler auf Lauterbachs Studie anspricht. Denn der Gesundheitsökonom arbeitete in seiner Studie mit den Daten des "Sozio-ökonomischen Panel", einer Langzeitbefragung von 22000 Deutschen.

Diese Befragung, die im Jargon der Statistiker "Söp" genannt wird, liefert für viele Fragen hervorragendes Datenmaterial - doch für Lauterbachs Fragestellung ist sie nur bedingt aussagekräftig: Unter den 22000 kontinuierlich Befragten des "Söp" gibt es wenige hundert Todesfälle. Dass dies sinnvolle Aussagen über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung ermöglicht, bezweifeln einige Sozialwissenschaftler.

Wesentlich aussagekräftiger ist eine neue Untersuchung, die Rembrandt Scholz vom Max-Planck-Institut für Demografische Forschung in Rostock mit Kollegen vorgelegt hat. Scholz konnte erstmals mit dem Zahlenmaterial des Forschungsdatenzentrums der Deutschen Rentenversicherung arbeiten, das bisher wegen des Datenschutzes unzugänglich war.

Damit bekam er, anders als Lauterbach, alle Männer in den Blick, die eine gesetzliche Rente beziehen - es sind 5,2 Millionen, von denen im Untersuchungsjahr 2003 etwa 250000 starben.

Sechs Jahre länger

Scholz' Fazit, das er gestern auf einer Tagung des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten präsentierte: Armut verkürzt das Leben, allerdings nicht in so starkem Maß, wie Karl Lauterbach annimmt. Die Lebenserwartung eines Mannes mit niedriger Rente ist nach Scholz' Studie knapp fünf Jahre geringer als die eines Mannes mit sehr hoher Rente.

Anders ausgedrückt: Ein 65-Jähriger, der in seinem abgelaufenen Arbeitsleben wenig verdient und wenig in die Rentenkasse eingezahlt hat, lebt durchschnittlich noch 14 Jahre; ein Gleichaltriger mit ehemals hohem Einkommen und hoher Rente hat eine weitere Lebenserwartung von knapp 19 Jahren.

Scholz und seine Kollegen konnten mit ihren Daten nach weiteren Unterschieden suchen. So stellten sie fest, dass Angestellte im Schnitt zwei Jahre länger leben als Arbeiter; auch derjenige, der privat krankenversichert ist, lebt statistisch fast drei Jahre länger als ein Pflichtversicherter.

Überrascht waren die Wissenschaftler über eine Parallele: Zwischen ost- und westdeutschen Rentnern fanden sich nur sehr geringe Unterschiede - trotz sehr verschiedener Arbeitsbedingungen im ostdeutschen Realsozialismus und westdeutscher Marktwirtschaft. Auf die Sterblichkeit scheint dies keinen Einfluss zu haben.

Eine Gruppe mussten die Wissenschaftler allerdings ausklammern: die Frauen. Denn die Daten, die bei der Deutschen Rentenversicherung über Frauen vorliegen, sind kaum interpretierbar: Die meisten Frauen der untersuchten Generation hatten ein unstetes Arbeitsleben und waren - mehr oder weniger lange - Hausfrauen mit wenig oder keinem eigenen Einkommen. Ob sie im Alltag über viel oder wenig Geld verfügen, lässt sich mit ihrer individuellen Rentenhöhe nicht feststellen, weil die Männer in vielen Fällen das Haupteinkommen der Familie beziehen.

Wie lassen sich die Daten nun deuten? Scholz diskutiert drei Kausalketten, die nach seiner Ansicht alle zum beobachteten Phänomen beitragen:

"Einkommen macht gesund": Wer mehr verdient, hat mehr Chancen, sich gesund zu halten und geht seltener gesundheitsgefährdenden Arbeiten nach.

"Gesundheit schafft Einkommen": Wer keine belastenden Krankheiten hat, hat größere Chancen, im Arbeitsleben erfolgreich zu sein.

"Gesundheit und Einkommen werden von gleichen Faktoren beeinflusst" - dazu zählt die individuelle Bildung genauso wie das Einkommen der Eltern oder genetische Veranlagungen.

Politische Schlussfolgerungen zieht der Demograf Scholz aus seiner Arbeit nicht - anders als Lauterbach, der seine Daten zu scharfer Kritik am System der Rentenversicherung verwendet: Die gesetzliche Rente sei ungerecht, weil sie Geringverdiener benachteilige. Besserverdienende sollten, so argumentierte Lauterbach, mehr in die Rentenkassen einzahlen; Geringverdiener müssten entlastet werden.

Skeptische Ökonomen

Diesen Gedanken widersprechen zwar Demografen wie Rembrandt Scholz nicht - doch Ökonomen äußern sich skeptisch. So weist der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Bert Rürup, darauf hin, dass es zum Wesen einer solidarischen Sozialversicherung gehört, nicht nach Risiken zu unterscheiden: In der gesetzlichen Krankenversicherung zahlen Jüngere für Ältere, die häufiger erkranken; in der Arbeitslosenversicherung zahlen Hochqualifizierte für schlecht Ausgebildete, die häufiger arbeitslos werden; in der Rentenversicherung zahlen Männer für Frauen, die länger leben. "Eine Unterscheidung nach der Lebenserwartung bestimmter Gruppen ist deshalb verfehlt", lautet Rürups Schlusskommentar zum Vorschlag Lauterbachs.

© SZ vom 12.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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