Landtagswahlen:Och nö

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Mit viel Geld und einer Kunstfigur versucht Sachsen-Anhalt, seine Bürger am Sonntag in einer Woche zum Wählen zu bringen. Klappt das? Szenen einer Entfremdung.

Von Cornelius Pollmer

Der Tag der Wahl war unendlich lang, dieses schwarze Ledersofa kommt also wie gerufen. Die Wahl lässt sich fallen, müde nippt sie an einem Tässchen, jetzt müsste nur noch jemand die Beatles einspielen: I'd been working like a dog, I should be sleeping like a log. Seit fünf Uhr hat die Wahl in einer Fabrik geschuftet, 250 Menschen hat sie dort im Nahkampf um eine Stimme gebeten, und nun? Muss sie noch mal an die Front. Die Wahl müht sich nach oben und schlurft in einen Nebenraum, kurz den Akku laden für das eher traurige Finale dieses Tages.

Nachname: Wahl, Vorname: Die. Blonder Power-Bob, graues Kostüm, darin eine Schauspielerin. Die Wahl ist Teil eines 1,9-Millionen-Euro-Pakets der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, auf 1500 Plakaten wirbt sie für die Landtagswahlen am 13. März. "Triff die Wahl!", steht auf diesen Plakaten, und daneben zum Beispiel: "Ich kenne ein echt nettes Lokal direkt bei dir um die Ecke!"

Frau Wahl ist zudem Teil einer Roadshow, bei der die Landeszentrale das Feuer der Demokratie vor allem in kleinere Winkel zu tragen versucht. Statistisch betrachtet, müsste sich an diesem Abend im Februar, in Haldensleben, besonders viel lernen lassen über das Verhältnis von Sachsen-Anhalt zum Wählen. Bei der Wahl 2011 lag das Ergebnis hier so nah am Landesergebnis wie nirgendwo sonst. Das Problem: Sachsen-Anhalt ist nicht da. 30 Menschen sind in das Dachgeschoss der Kulturfabrik gekommen, das Buffet ist eher für 80 ausgelegt, die mobilen "Mitmach-Wände" für noch mehr. Von den 30 Menschen aber gehören noch einmal 15 zum offiziellen Programm - Moderatoren, Helfer, Politiker.

Ein paar bleiben beeindruckend ausdauernd stumm sitzen, und so bleiben letztlich fünf, sechs Bürger, die sich in zweieinhalb Stunden Diskussion irgendwie hörbar artikulieren. Sie durchlaufen die gegenwärtig typischen Themenfelder (Asyl, Russland, TTIP), bald wird es zäh. Nach eineinhalb Stunden schleicht der Lokalredakteur aus dem Saal, die wachsamen Moderatoren rufen ihm rügend ein knappes "Schade!" nach. Eine weitere Stunde später bilanzieren die geladenen Politiker die Runde, einer sagt ziemlich fröhlich, er sei überrascht, wie unbehelligt er hier habe sitzen dürfen. Niemand habe ihn angegiftet.

Vor zehn Jahren beteiligten sich 44 Prozent der dazu Berechtigten an der Landtagswahl, fünf Jahre später waren es 51 Prozent. Wenn es in einer Woche abermals einen kleinen Aufwuchs gibt, dann liegt das vor allem an der Asylpolitik und damit an einer "durchaus dramatischen, aber auch vergänglichen Facette der politischen Kultur", sagt Everhard Holtmann. Grundsätzlich aber sei eine Entfremdung der Bürger von der Politik zu beobachten. Demos gegen "Volksverräter" und Angriffe auf Asyl-Unterkünfte seien dabei "nur die militante Spitze des Eisbergs. Was man nicht sieht, das ist die resignative Hoffnungslosigkeit vieler anderer".

Der Politologe Holtmann ist Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle und gewissermaßen Teil jener Expedition, auf die sich auch Frau Wahl begeben hat. Im vergangenen Jahr erstellte Holtmann erstmals einen Nichtwahl-Monitor, knapp 1600 Wahlberechtigte wurden befragt. Erste Frage natürlich an Herrn Holtmann, in seinem Büro in Halle an der Saale: Wie findet man die eigentlich, die Nichtwähler? Holtmann: "Nichtwähler sind scheue Rehe, das ist ganz schwierig, deswegen haben wir ein methodisch innovatives Verfahren angewendet."

Everhard Holtmann ist also eine Art demoskopischer Grzimek, und er hat für Sachsen-Anhalt vier Typen von Nichtwählern ausgemacht. 21 Prozent der Bürger stuft er als Dauer-Nichtwähler ein, systemkritisch, Grundgefühl: ungerecht behandelt. Neben diesen gibt es partielle und sporadische Nichtwähler, am interessantesten aber scheint Typus vier zu sein: Der Erst-Nichtwähler. Sie gingen bislang immer wählen oder durften es qua Alter noch nie - und kündigen nun an, den Wahlen fernbleiben zu wollen. Acht Prozent der Wahlberechtigten ordnet Holtmann dem Typ zu, "das sind die, die noch am ehesten für Rückholaktionen empfänglich sind".

Der Kleingärtner will, dass mehr für Kleingärtner getan wird. Sonst droht Systemkritik

So viel zum Grundsätzlichen, hinzu kommt am nächsten Sonntag der Faktor X: die AfD. Seit Monaten steigt ihr Umfragewert, aktuell liegt er bei 17 Prozent. Holtmann sagt, man müsse gar nicht so weit zurückschauen, um eine Parallele für diesen Aufstieg zu finden. 1998 gab es einen ordentlichen Aufwuchs in der Wahlbeteiligung, der Rechtsaußen-Ausleger DVU erreichte aus dem Nichts fast 13 Prozent. Danach sackte die Wahlbeteiligung wieder ab. "Die ökonomische und soziale Transformationskrise war damals noch konkret präsent, das Land litt unter der ,roten Laterne'. Da hat sich ein weit verbreiteter Frust entladen."

Wenn man Holtmann nun fragt, warum sich zwar so viele vorstellen können, AfD zu wählen, dieser aber gleichzeitig kaum Kompetenzen zuschreiben, dann klingt er selbst ein wenig resigniert. Man solle sich lieber nicht in Rationalisierung versuchen. Das Wählerverhalten sei eben höchst widersprüchlich, und "viele machen sich erst gar nicht die Mühe, sich in diese Widersprüche hineinzudenken. Es fehlt die Lust dazu, es ist ihnen nicht wichtig, und es fehlt ihnen auch an politischer Kenntnis".

Zwar müsse man sich auch vor schrillen Kassandrarufen hüten; es gebe seit 1990 bemerkenswerte Zeichen für eine stabile Akzeptanz der Demokratie. Ein wenig Sorge macht sich Holtmann dennoch um die politische Kultur, vor allem wegen der traditionellen Schwäche der Institutionen. "Die Kirchen erreichen hier nur 20 Prozent, Parteien sind kaum mehr in der Fläche präsent, die Verbände schwach organisiert", sagt Holtmann. Es fehlt also an Arenen, in denen sich lernen lässt, Konflikte auszutragen und Kompromisse zu finden.

"Die Wahl" soll jetzt die Bürger an die Urne treiben. (Foto: Landeszentrale für politische Bildung)

Der Wahlkampf selbst stellt eine solche Arena auch nicht gerade bereit, das sieht man schon an den Plakaten. "Die Rechte" versuchte es mit Galgenhumor und installierte Banner mit der Aufschrift: "Wir hängen nicht nur Plakate!" Und wer in letzter Zeit mal nach Bitterfeld-Wolfen gefahren ist, der konnte bei den Grünen oft nur noch die Hälfte des Aufstellers lesen. "Grüne für", stand da im oberen Teil, den unteren hatte eine schwarze Spraydose überwandert: "ISLAM".

Schon gesehen, Herr Striegel? "Ach, das passiert immer recht fix, dass Plakate geschändet werden", sagt Sebastian Striegel, 35, wenig überrascht. Seit 2011 gehört der Grüne dem Landtag an, seit 1998 macht er Wahlkampf, häufiger begleitet ihn seit einer Weile die Polizei dabei. Im vergangenen Jahr gab es zehn Anschläge auf Striegels Ladenlokal in Merseburg, sein Werbekärtchen am Stand in Wolfen wirkt da vergleichsweise forsch: "Striegel wählen, heißt Nazis quälen!"

Hier, an der Dessauer Allee, Wolfen-Nord, ist der Nichtwählerkampf extrahart. Die Zahl der Einwohner ist seit 1990 auf weniger als ein Drittel gesunken, erst ging die Arbeit, dann gingen die Arbeiter. Striegel sagt, der Strukturwandel sei in Wolfen-Nord "besonders krass, und jetzt läuft die zweite Enttäuschungswelle. Erst wurden die vielen Kombinate plattgemacht, dann begann die Pleite der Solarindustrie."

Die Verhältnisse haben sich hier längst umgedreht, nicht der Bürger versucht, Gehör in der Politik zu finden, die Politik versucht es bei den Bürgern. Zwei Männer kommen schließlich an den Stand. Mann Nummer eins ist Kleingärtner und will, dass sofort etwas für die Kleingärtner getan wird. Dass es dafür wenig Geld gibt und dass dieses auch anderswo gebraucht werden könnte? Interessiert ihn nicht.

Striegel sagt, es gebe inzwischen "eine völlig unrealistische Erwartungshaltung an die Politik: Die sollen jetzt mal bitte machen, was ich will. Und wenn das dann nicht klappt, ist eine unmittelbare Enttäuschung da, gleich das ganze System betreffend." Mit Mann Nummer zwei kommt er erst gar nicht richtig ins Gespräch. "Was habt ihr denn so?", fragt der Mann. "Politische Inhalte!", sagt Striegel. Der Mann winkt ab. Einen Kuli, den könne er besser gebrauchen, "sonst kann ich ja nichts ankreuzen." Dann dreht er sich um und schlappt, irgendwie arrogant, davon.

© SZ vom 05.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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