Konservative:Oettingers Weltsicht

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Die skandalöse Verharmlosung Filbingers durch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten offenbart mangelnden Scharfsinn. Dass er nun von seinen eigenen Worten "Distanz nimmt", ist freilich absurd.

Kurt Kister

Günther Oettinger, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, ist zwar schlau, aber trotzdem nicht der Hellste. Von einem Spitzenpolitiker muss man erwarten, dass er sich der Folgen seines Redens und Tuns bewusst ist, sie zumindest aber abschätzen kann.

Oettinger konnte dies nicht, sonst hätte er nicht den ehemaligen Marinerichter Hans Filbinger als NS-Opfer und Nazi-Gegner beschrieben. Dass er sich nun von seiner Rede "distanziert" hat - er entfernt sich von seinen eigenen Worten, was für ein absurder Vorgang! - ist nicht auf Einsicht, sondern auf den Druck von allen Seiten zurückzuführen.

Die Wehrmachtsjustiz mit ihren furchtbaren Juristen war für den Tod Zehntausender deutscher Soldaten verantwortlich, die als "Deserteure", "Wehrkraftzersetzer" oder "Kameradendiebe" aufgehängt, erschossen oder in KZ und Strafbataillone gezwungen wurden.

Ja, die Blutrichter in Uniform folgten dabei geltendem Gesetz, das von ihren Kollegen in Mörderparagraphen gegossen worden war. Noch jedes Unrechtssystem hat seine Juristen gefunden, die ihm passende Gesetze machten, und auch solche, die dann die Todesurteile beantragten.

In der Tradition des Tunnelblicks

Jenseits der individuellen Geschichtsverfälschung war Oettingers Trauerrede auf Filbinger vor allem ein politischer Reflex.

Oettinger ist ein idealtypischer Vertreter jener Spezies von bodenständigen Konservativen, die political correctness zwar nicht so gut aussprechen können, deren Protagonisten aber überall am Werk wittern.

Unter ihnen gibt es etliche Dumpfbacken, die Streit über gemeinsame historische Verantwortung und individuelle Schuld in erster Linie als parteipolitisch motiviert sehen, etwa nach dem Motto: Die Linken reden das Land und die Leistungen der Älteren schlecht.

Ein krasses Beispiel für diese Dumpfbackigkeit lieferte der CDU-Bundestagsabgeordnete Brunnhuber von der Ostalb, der Oettinger mit dem Satz verteidigte, es habe "von der SPD" ja auch keine Kritik daran gegeben, dass Günter Grass bei der Waffen-SS gewesen sei. Also werde akzeptiert, dass "Linke" bei der SS gewesen sein dürfen.

Oettinger ist für diese Form der "Argumentation" anfällig; auch er hat die Kritik an seiner Leichenrede zuerst als "rot-grüne Kampagne" abgetan. Nachdem auch seine Parteivorsitzende Angela Merkel ihn rügte, sprach er nicht mehr von einer Kampagne.

Oettinger hat offenbar bis heute nicht wahrgenommen, dass die Bundesrepublik und auch die DDR Gegenmodelle zu jenem Staat sein sollten, in dem deutsche Befehlsgeber und -empfänger mit deutschen Gesetzen die schrecklichsten Verbrechen verübten.

In der DDR ging das mit dem Gegenmodell gründlich schief, wovon die Toten an der Mauer und die Archive der Stasi zeugen - vor allem aber die Tatsache, dass dem Unrechtsstaat am Schluss das kujonierte Volk davonlief.

In Westdeutschland war die Auseinandersetzung mit dem Ungeheuerlichen eine konstitutive Entwicklung über Jahrzehnte hinweg. Alle Institutionen der Bundesrepublik wurden überwiegend von Mitmachern und Mitläufern aufgebaut. Hie und da saßen Widerstandskämpfer oder Emigranten an den Schalthebeln; hie und da waren es aber auch Täter und vergessliche, auf das Vergessen hoffende Mörder.

Aus Eifer gegen "die Linken"

Je älter jene wurden, die 1945 zu jung waren (oder noch gar nicht geboren), um mitgemacht zu haben, desto schärfer wurden die Debatten. Die Rebellion von 1968 wurde in Deutschland getragen von diesem sehr spezifischen Generationenkonflikt.

Die jungen 68er waren damals links und viele von ihnen glaubten, es könne eine freiheitliche und sozialistische Ordnung geben. Die meisten 68er verstanden erst später, dass sich das gegenseitig ausschließt.

Leute wie der 53-jährige Oettinger oder der 59-jährige Brunnhuber wurden damals politisch sozialisiert. Ihr Eifer richtete sich gegen "die Linken". Typisch für diese sei zum Beispiel die Schmähkritik an allem, was "Ordnung" symbolisierte, zum Beispiel den Respekt gegenüber der Väter-Generation.

Diese typisch westdeutschen Konservativen stritten die deutschen Verbrechen nicht ab. Aber sie beschrieben sie gerne mit wabernder Rhetorik ("dunkle Wolken über Deutschland"; "Hitler überfiel Russland"). Ihr Verständnis für "Verstrickungen" und "menschliche Schwächen" war und ist groß; ihre Bereitschaft, "endlich nach vorne zu blicken", ist nahezu unermesslich.

Manche von ihnen ähneln in der Unerschütterlichkeit der Überzeugungen jenen Alt- und Neu-68ern, die hinter jedem Baum den Faschismus lauern sahen und jeden Offizier der Wehrmacht für einen Kriegsverbrecher sowie alle Soldaten für Mörder halten.

Es passt, dass Oettinger ausgerechnet von Merkel die Kopfnuss erhalten hat. Die Ostdeutsche hat den westdeutschen Dauerkonflikt über die Verbrechen der Väter und die Arroganz der Söhne nicht miterlebt. Für sie ist es selbstverständlich, dass der Marinerichter Filbinger kein NS-Gegner gewesen sein kann.

Bei Oettinger ist das anders: Er hat über Filbingers Sarg eine Auseinandersetzung fortgeführt, die von Adenauers Globke über Erich Mendes Ritterkreuz bis zum zu späten Mut des SS-Sturmmannes Grass reicht. Weil die Generation derer, die noch dabei waren, ausstirbt, wird es nicht mehr viele solcher Debatten geben.

© SZ vom 17.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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