Kommentar:Wie viel Orwell braucht der Staat?

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Wo man sich vor seinem eigenen Haus küssen darf und wann der Müll hinausgestellt werden muss - der Große Bruder ist nicht gewaltig groß, aber überall zu finden.

Heribert Prantl

(SZ vom 25.6.2003) - Heute, am hundertsten Geburtstag von George Orwell, ist festzustellen: "Big Brother" ist nicht so groß geworden, wie Orwell es 1948 befürchtet hat, als er seinen Zukunftsroman "1984" schrieb. Aber dieser Große Bruder, dieser Herr des gewaltigen Überwachungs- und Manipulationsapparates in Orwells fiktivem Staat Ozeanien, hat in den westlichen Gesellschaften Kinder gekriegt und Schüler gefunden.

Die US-Amerikaner zum Beispiel haben jüngst den ersten Wahlspruch des Großen Bruders übernommen und in die Tat umgesetzt. Er lautet: "Krieg bedeutet Frieden".

Und in Deutschland ist es so, dass am 1. Juli das Bundesverfassungsgericht in seiner Verhandlung über den großen Lauschangriff über die Frage zu entscheiden hat, wie viel Orwell der Staat braucht - ob er also tatsächlich mit seiner Polizei in Privatwohnungen einbrechen und dort Abhörwanzen installieren darf.

Das Gericht wird darüber entscheiden müssen, ob der Gesetzgeber die Bürger irreführen darf, indem er fälschlich behauptet, nur Gangsterwohnungen in Fällen der organisierten Kriminalität würden abgehört. Tatsächlich ist es nämlich so, dass die Wohnungswanze bei dreißig Tatkomplexen erlaubt ist, dass ihr Einsatz weder eine konkrete Gefahr noch einen konkreten Tatverdacht voraussetzt.

Es genügt ein "einfacher" Verdacht und derjenige, gegen den sich die Wanze richtet, muss auch gar nicht der Täter der vermuteten Delikts sein. Es genügt die Annahme, dass sich der Betroffene dort aufhalten könnte, um alle Gespräche aller Menschen aufzunehmen, die in die Wohnung kommen und sich dort bewegen.

Im Beichtstuhl jedenfalls ist man noch einigermaßen sicher. Das ist bei Orwell anders: Dort gibt es keine Kirchen und keine Beichtstühle mehr - im Übrigen auch keinen Steuerberater. Das Gespräch mit ihm ist nämlich nach geltendem Abhör-Recht besser geschützt als das Gespräch eines Verdächtigen mit seiner Mutter.

Das Wanzenprotokoll wird übrigens nicht etwa zu den Strafakten genommen, sondern gesondert verwahrt; ob es der Angeklagte und sein Verteidiger überhaupt je zu Gesicht bekommen, ist nicht gewiss. Das Gesetz sieht nämlich vor, dass allein Staatsanwaltschaft und Gericht darüber entscheiden, ob man auch dem Verteidiger das Beweismittel zur Kenntnis bringen soll.

"Selbst die DDR war nicht schamlos genug, das gesetzlich zu regeln", meint der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, einer der Kläger in Karlsruhe.

Die westlichen Staaten, so auch die Bundesrepublik, führen ein bestechendes Argument an, um immer mehr Überwachungsmaßnahmen zu rechtfertigen und die Gen-Verdatung der Bevölkerung auszubauen: Sie wollen der Gewalt, ja dem kriminellen und terroristischem Übel überhaupt zuvorkommen.

Die präventive Logik ist expansiv: Wer vorbeugen will, weiß nie genug. Deshalb will der Staat immer mehr wissen, deshalb dringt er immer mehr in die Privat- und Intimsphäre ein.

Diese Überwachung und Durchleuchtung ist indes keine zentrale Staatsveranstaltung. Sozialkontrolle findet auf zahlreichen Ebenen statt, das elektronische Auge ist nicht nur, wie bei Orwell, das Auge des Staates.

In riesigen Einkaufszentren, in denen zunehmend auch die Freizeit verbracht wird, dienen Kameras, dienen reale und symbolische Barrieren auch zur Einhaltung der vorgegebenen Verhaltensstandards.

Es gibt immer mehr bewachte Wohnanlagen, Wohngebiete und Stadtviertel. In privat gegründeten Siedlungen, wie man sie in den USA kennt, existieren "Covenants, Conditions & Restrictions", die das Alltagsleben umfassend regeln und vorschreiben, wo man sich vorm eigenen Haus küssen und wann der Müll herausgestellt werden darf.

Furcht vor Kriminalität führt zur freiwilligen Unterwerfung unter solche Regeln.

Und so kommt es, dass der Große Bruder vielleicht nicht gewaltig groß ist - dafür ist er überall zu finden. Er existiert in staatlicher und in privatisierter Form. Er ist furchtbar fruchtbar.

(sueddeutsche.de)

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