Kommentar:Sprengstoff aus Straßburg

Das Urteil des Gerichtshofs beim Europarat hat gezeigt: Straßburg ist längst in der Lage, riesige Löcher in den Bundeshaushalt zu sprengen. Schon allein deshalb verdient das bislang unauffällige Gericht mehr Aufmerksamkeit aus Berlin.

Von Helmut Kerscher

Der deutsche Michel ist aufgewacht: Nicht nur in Brüssel und Luxemburg wird die nationale Politik korrigiert, sondern auch in Straßburg. Mit einem Schlag hat der dort ansässige Gerichtshof des Europarats in seinem Urteil zugunsten der Erben von "Neubauern" nach 1949 für Unrecht erklärt, was der Bundestag beschlossen und die höchsten deutschen Gerichte gebilligt hatten.

In der Sache selbst ist das Straßburger Verdikt akzeptabel. Der deutsche Gesetzgeber und Gerichte hierzulande hatten zwar vernünftige Argumente, den Erben von Bodenreform-Begünstigten, die oft durch puren Zufall noch im Grundbuch standen, einen Ausgleich zu verweigern.

Straßburgs Macht wächst Jahr um Jahr

Aber ebenso lässt sich eine Entschädigungspflicht vertreten - vor allem, wenn leere Kassen von Bund und Ländern nicht zählen. Um viel mehr Geld wird es demnächst bei den noch anhängigen Klagen von "Alt-Eigentümern" gehen. Sie haben noch lange nicht gewonnen. Doch Straßburg hat gezeigt, dass es Löcher in die öffentlichen Haushalte Deutschlands sprengen kann.

Es mag sein, dass die einstimmige Entscheidung der siebenköpfigen Kleinen Kammer von der Großen Kammer nicht bestätigt wird. Aber das Urteil erhellt blitzartig die Bedeutung des bisher eher unauffälligen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Wie auch beim Luxemburger EU-Gerichtshof und dem deutschen Bundesverfassungsgericht wächst seine Macht Jahr für Jahr. Das heißt für die Politik unter anderem, dass die Auswahl des deutschen Gerichtsmitglieds größte Aufmerksamkeit verdient. Die bald fällige Nachfolge des amtierenden deutschen Richters Georg Ress, der das jetzige Urteil mitgeprägt hat, muss auf die politische Tagesordnung kommen.

© SZ vom 23.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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