Kommentar:Späte Sinnstiftung

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Besser spät als nie: Wie Bundeskanzler Gerhard Schröder nach dem heißen Reformherbst 2003 seine Agenda 2010 Bürgern wie Genossen endlich verständlich machte.

Von Ulrich Schäfer

Der Kanzler hat am Donnerstag genau das getan, was er schon vor einem Jahr hätte machen sollen: Er hat erklärt, warum er das Land verändern will, und warum es sich verändern muss. Gerhard Schröder hat den Bogen gespannt vom Wirtschaftswunder, das es einmal gab, zu jenem ökonomischen Wunder, auf das er nach drei Jahren der Stagnation hofft. Er hat an den Gemeinsinn aller appelliert und den wachsenden Egoismus kritisiert. Er hat dafür geworben, mehr umzuverteilen zwischen denen, die heute vom Sozialstaat profitieren, und jenen, die ihn morgen noch brauchen, wenn auch in veränderter Form.

Wie nebenbei hat der abgetretene SPD-Chef auch das Herz seiner Partei gewärmt, er hat - zu Recht - die Manager kritisiert, die sich millionenschwere Gehälter und Abfindungen gönnen, während sie von den Normalverdienern Verzicht verlangen. Und er hat von den Rentnerinnen erzählt, die ihm ihre Probleme klagen und trotzdem einsehen, dass ihre Altersbezüge sinken müssen.

Später Sinn der Agenda

Spät, zu spät hat Gerhard Schröder damit jener Reformagenda Sinn und Rahmen gegeben, die er vor einem Jahr vorgestellt hat. Damals hatte er kühl und distanziert beschrieben, was er zu tun gedenkt: Renten- und Gesundheitsreform, Hartz-Gesetze und Subventionsabbau. Im März 2003 war es so, als referiere jemand den Beipackzettel für eine bittere Medizin, ohne dem Patienten zu erklären, warum er diese Arznei schlucken muss.

Deshalb war die Abwehrhaltung gegenüber der Agenda 2010 so groß, und zwar quer durchs Land, nicht nur in der SPD. Der Beifall der Ökonomen nutzte Schröder wenig, ihm schadete der Aufstand von Wählern und Gewerkschaften, aber auch der Protest von Wirtschaftsverbänden, die um ihre Pfründe fürchteten.

Nun hat Gerhard Schröder die Sinnstiftung nachgeliefert, die ihm, hätte es sie schon vor einem Jahr gegeben, vielleicht den Rücktritt vom SPD-Vorsitz erspart hätte. Ausgerechnet jetzt bietet er das, was die Partei vorher von ihm hatte hören wollen - mehr Gefühl und mehr Pathos; er bot aber auch weniger Inhalt. Wirklich Neues nämlich, und dies ist das große Manko, enthielt die Agenda zweiter Teil nicht. Immerhin: Der Kanzler gab zu verstehen, dass er von dem, was beschlossen wurde, nichts zurück nehmen will.

Praxisgebühr, Zuzahlungen, Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose: Alles soll so bleiben - auch wenn Gewerkschaften und die Parteilinken maulen und ein Zurückdrehen der Reformen fordern. Auch die widersinnige Ausbildungsplatzabgabe ist für Schröder nur ein Kann, kein Muss. Insofern zeigt der Kanzler sich erstaunlich standfest, was auch daran liegt, dass er Franz Müntefering hinter sich weiß. Der neue Parteichef redet anders als der alte: kürzer, knapper, ohne Geschwurbel. Aber er steuert die SPD, entgegen mancher Hoffnung der Parteilinken, auf keinen anderen Kurs.

Doch was kommt nun? Was folgt auf den heißen Reformherbst des Jahres 2003? Schnelle Umbauten der Sozialversicherungen jedenfalls nicht. Hier soll erst einmal wirken, was beschlossen wurde. Stattdessen will der Kanzler nun mehr Geld in Bildung und Forschung investieren, was bitter nötig ist. Er will, um dies zu bezahlen, die Eigenheimzulage vollends abschaffen, was ebenfalls überfällig ist, denn das Land braucht nicht mehr Beton, sondern mehr kluge Köpfe. Die Regierung will zudem die Kinderbetreuung verbessern und es Frauen erleichtern, Familie und Job miteinander zu vereinbaren.

Wenn den vagen Worten wirkliche Taten folgen, wäre dies ein richtiger Schritt: In Skandinavien, wo der Staat weitaus mehr in Kindergärten, Horte und Ganztagsschulen investiert, arbeiten wesentlich mehr Frauen und entlasten so auch die Sozialsysteme. Auch auf diesem Feld ist langer Atem nötig, auch hier werden sich, wie bei den Maßnahmen der Agenda 2010, erst mittelfristig Erfolge zeigen. Mittelfristig heißt: nach der nächsten Bundestagswahl. Insofern wäre es verfrüht, schon jetzt den Stab über dem zu brechen, was die Regierung teils mit Hilfe, teils gegen den Widerstand von Union und FDP, bislang auf den Weg gebracht hat. Es lassen sich allenfalls erste Trends erkennen.

Die wenigen marktwirtschaftlichen Elemente der Gesundheitsreform scheinen, trotz aller Mängel, zu wirken: Weil die Bürger mehr für Arztbesuche und Medikamente bezahlen müssen, gehen sie seltener zum Arzt oder in die Apotheke, ohne dass es ihnen erkennbar schlechter ginge. Auch die Arbeitsmarktreformen - von der Ich-AG bis hin zur Lockerung des Kündigungsschutzes - entfalten Wirkungen, wenn auch viel zu langsam; so dürfte sich die Zahl der Arbeitsuchenden im Laufe des Jahres verringern. Wenn die Regierung Glück hat, springt auch die Binnennachfrage an, was durch das Vorziehen der Steuerreform befördert, durch wachsende Terrorangst und Währungsturbulenzen aber auch gefährdet wird.

Schröder lebt also wieder nach dem Prinzip Hoffnung. Nur ein Aufschwung kann ihn aus dem Umfragetief befreien; nur wenn deutlich mehr Arbeitsplätze entstehen, wird ihm dies 2006 genug Stimmen bringen. Andernfalls dürfte es ihm und der SPD so ergehen wie den Sozialdemokraten in den Niederlanden, die sich unter Wim Kok acht Jahre lang darum bemühten, den Wohlfahrtsstaat zu reformieren. Sie taten das Richtige - und wurden trotzdem abgewählt.

© SZ vom 26.3.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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