Kommentar:Kaukasischer Teufelskreis

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Es war nichts als Härte zu erwarten. Von den Terroristen. Und auch von Wladimir Putin.

Von Tomas Avenarius

Das blutige Ende des russisch-tschetschenischen Geiseldramas überrascht nicht. Die Terroristen waren zu allem entschlossen: Wer nimmt Kinder als Geiseln, wenn er noch Skrupel kennt? Von Russlands Präsidenten war ebenfalls nichts als Härte zu erwarten.

Zum einen hat Wladimir Putin dem Terror noch nie nachgegeben. "Russland lässt sich nicht in die Knie zwingen", ist sein staatspolitisches Credo. Zum anderen hätte er auf die von den Terroristen gestellte Forderung nach einem Truppenabzug aus Tschetschenien oder der Freilassung inhaftierter Kämpfer nie eingehen können. Wer nachgibt, fordert die nächste Geiselnahme heraus.

Härte kann neuen Terror nicht verhindern, Nachgiebigkeit aber provoziert ihn. Kaum ein Staatschef hätte anders gehandelt.

Zunächst bleibt Ratlosigkeit darüber, was in Tschetschenien geschehen soll. Der Konflikt strahlt längst auf den ganzen Kaukasus aus. Weder die Rebellen noch die Armee können den Krieg gewinnen. Russlands Truppe ist zu stark, als dass sie von ein paar tausend Rebellen vertrieben werden könnte. Sie ist aber nicht stark genug, die Region zu kontrollieren. Auch Putins verlogene "politische Lösung" ist gescheitert.

Völker, mit Hass erfüllt

Mit der manipulierten Wahl tschetschenischer Vasallen kann Moskau keinen Frieden schaffen. Der traurige Beweis: Nie gab es in Russland so viel tschetschenischen Terror wie seit Beginn dieser "politischen Lösung", nie hatten die militanten Tschetschenen so viele Weggefährten aus anderen muslimischen Kaukasusvölkern.

Wie aber kann die ehrliche Lösung aussehen, die Außenminister Joschka Fischer einfordert? Wer soll bei den durch einen Bürgerkrieg entzweiten Tschetschenen überhaupt deren Sprecher sein? Die Lage ist verfahren, die Völker sind mit Hass erfüllt. Da drängt sich internationale Vermittlung auf.

Die Tschetschenen sind Muslime, die Rebellen berufen sich auf den Islam. Warum also keine muslimischen Vermittler? Der Kontakt zu den Geiselnehmern der von Terroristen entführten französischen Journalisten ist französischen Muslimen zu verdanken. Warum sollten internationale Islam-Würdenträger nicht in der Lage sein, mit den kaukasischen Rebellen zu sprechen? Das Thema Tschetschenien beschäftigt die islamische Welt weit stärker als den Westen: Das Sterben von Muslimen wird schmerzlichst wahrgenommen.

Russland muss sich von Tschetschenien trennen

Zunächst aber muss der Kreml klarstellen, worüber er verhandeln will. Ist Moskau bereit, Tschetschenien in die Unabhängigkeit zu entlassen? Denn die Unabhängigkeit wird möglicherweise am Ende des Prozesses stehen. Die Tschetschenen sind ethnisch nicht mit den Russen verwandt, sprechen ihre eigene Sprache, haben eine eigene Kultur und eine andere Religion als die Mehrheit der Russen. Historisch ist die Kaukasus-Republik eine von den Zaren eroberte Quasi-Kolonie. Dass Stalin die Tschetschenen im Zweiten Weltkrieg wie Vieh nach Zentralasien deportieren ließ, unterhöhlt Moskaus Herrschaftsanspruch weiter.

Russland ist ein an den kaukasischen Rändern ausfransendes Imperium, es wird sich wohl von Tschetschenien trennen müssen. Die Loslösung unblutig zu gestalten und sicherzustellen, dass die Unabhängigkeit zu einem für Russland berechenbaren Staatswesen führt, wäre Aufgabe des Kremlchefs. Verweigert sich der Großrusse Putin, werden er und seine Nachfolger auf Jahrzehnte mit Terror aus dem Kaukasus leben müssen.

© SZ vom 4.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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