Kommentar:Herumdoktern an der Pflegeversicherung

Lesezeit: 2 min

Die von der Bundesregierung geplante Reform zielt zu kurz, eine umfassende Änderung ist nötig. Doch die SPD hat Angst vor ihren Wählern.

Von Andreas Hoffmann

Er ist zum Ceterum Censeo der Politik geworden. Jeder fordert ihn gern. Die CDU, die SPD, Grüne, die FDP sowieso. Für Wirtschaftsminister Wolfgang Clement ist er sogar ein besonderes Anliegen - der Bürokratie-Abbau. Man muss nur gegen den Beamtenapparat wettern oder die Vorschriften hierzulande beklagen, schon brandet der Beifall auf; jede Talkshow lässt sich so gefahrlos überstehen.

Reform im Bürokratie-Dschungel

Den kräftigen Worten folgen aber selten Taten. Im Gegenteil. Fern der Sonntagsreden lässt Rot-Grün immer weiter den Bürokratie-Dschungel wuchern. Jüngstes Beispiel ist die Pflegereform.

Vom kommenden Jahr an soll gelten: Wer älter als 23 Jahre ist und keine Kinder hat, soll mehr in die Pflegeversicherung zahlen als Eltern. Das klingt einfach, wird aber viel Arbeit machen. Die Firmen dürfen bei ihren Beschäftigten nachfragen, wie es mit dem Nachwuchs steht. Man wird Nachweise verlangen, manche Arbeitnehmer werden auf frühere Partnerschaften und Kinder verweisen.

Kind oder kein Kind?

Arbeitsagenturen und Rentenversicherer dürfen sich ebenfalls auf Mehrarbeit freuen, immerhin zahlen auch Arbeitslose und Rentner in die Pflegekasse. Also muss noch mehr geprüft und nachgewiesen werden - auch wenn es oft nur um Beträge von ein paar Euro im Monat geht. Somit ist ein Effekt der Pflegereform gewiss: Rot-Grün schafft mehr Beschäftigung - bei den Behörden. Aber gab es keine Alternativen? Doch.

Schelte an den Verfassungsrichtern

Aber dazu fehlte der Koalition der Mut. Alle Sozialpolitiker wissen, dass der jüngste Zweig der Sozialversicherung reformiert werden muss. Allein schon wegen eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter schrieben der Regierung vor, bis 2005 Eltern in der Pflegekasse zu entlasten. Der Grund: Wer Kinder erzieht, hat bereits einen Beitrag zur Pflegeversicherung geleistet. Das Urteil ist zwar nicht sehr logisch.

Denn nicht die Zahl der Kinder ist entscheidend, sondern ob die Kinder später produktiv sind, also arbeiten und Pflegebeiträge zahlen. Ansonsten könnte Afghanistan die beste Pflegeversicherung der Welt haben, dort bringt jede Frau im Schnitt 6,7 Kinder zur Welt. Nur Schelte an den Verfassungshütern hilft wenig, Rot-Grün muss das Urteil umsetzen.

Berufsnomaden statt Familienmenschen

Die Koalition hätte den Spruch aber als Chance nutzen können, als Aufbruch. Die Pflegeversicherung muss aus vielen Gründen wetterfest gemacht werden. Die Gesellschaft wandelt sich, die Menschen werden immer älter. Wer aber 85, 90 oder 95 Jahre alt ist, leidet oft unter mehreren Gebrechen. Um diese zu betreuen, ist pflegerischer Sachverstand nötig, den Familien oft nicht leisten können.

Die Familien werden kleiner, es gibt mehr Single-Haushalte, und die Berufswelt ändert sich. Arbeitnehmer wandeln sich zu Berufsnomaden, die ihren Jobs hinterherreisen. Für die Pflege der Eltern fehlt Zeit. All diese Trends haben Folgen: Die Pflege von Menschen muss professioneller werden. Und sie wird mehr Geld kosten. Schon heute reiht sich in der Pflegeversicherung Defizit an Defizit.

SPD hat Angst vor ihren Wählern

Insofern gäbe es viele Gründe für eine umfassende Reform - zumal der Sozialexperte Bert Rürup einen vernünftigen Plan vorgelegt hat, der Ältere stärker einbezieht und einen Kapitalstock aufbaut. Damit hätte die Koalition sogar Sinnstiftung betreiben können. Seht her, Wähler: Unsere Ideen machen die Pflegeversicherung fit für die Zukunft, dafür fordern wir von euch etwas Verzicht ein. Reformpolitik würde so eine Botschaft erhalten, nach der SPD und Grüne wie ja auch die Bürger immer noch fahnden.

Doch daraus wird offenbar nichts. Die SPD hat Angst vor ihren Wählern. Man begnügt sich mit mikroskopischen Änderungen, auch wenn sie vor allem zu Beitragswirrwarr und Bürokratie führen und die Pflegeversicherung nicht nachhaltig sanieren werden. Bei der nächsten Wahl werden Franz Müntefering und Gerhard Schröder dann wieder klagen, dass die Menschen ihre Reformen nicht verstehen. Wie sollten sie auch?

© SZ vom 6.7.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: