Kommentar:Ein Gericht steht Spalier

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Die höchsten Richter haben den Kanzler erhöht: Sie haben ihm einen großen Entscheidungsspielraum zuerkannt, sie haben ein sehr weites, rechtlich kaum überprüfbares Kanzler-Ermessen akzeptiert. Seine Stellung im Verfassungsgefüge wird gestärkt, die des Parlaments geschwächt: Willkommen in der Kanzlerdemokratie.

Heribert Prantl

Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik; so steht es im Grundgesetz. Die volkstümliche Übersetzung dieses Satzes lautet: Auf den Kanzler kommt es an. So hat es schon Konrad Adenauer plakatiert, und so hält es auch Gerhard Schröder, sein sechster Nachfolger.

Soeben hat das Bundesverfassungsgericht dieses Motto nicht nur bestätigt, sondern erweitert: Seit dem gestrigen Urteil, mit dem das höchste Gericht den Weg zur vorzeitigen Neuwahl freigibt, kommt es auf den Kanzler noch mehr an als bisher. Seine Stellung im Verfassungsgefüge wird gestärkt, die des einzelnen Parlamentariers, ja die des Parlaments insgesamt, geschwächt: Willkommen in der Kanzlerdemokratie.

Der Kanzler bestimmt künftig nicht nur die Richtlinien der Politik, er bestimmt auch, ob das Parlament vorzeitig aufgelöst werden soll. Die höchsten Richter haben den Kanzler erhöht: Sie haben ihm einen großen Entscheidungsspielraum zuerkannt, sie haben ein sehr weites, rechtlich kaum überprüfbares Kanzler-Ermessen akzeptiert. Das deutsche Regierungssystem rückt damit auf der Skala, auf deren einen Seite die Parlamentsdemokratie und auf deren anderen Seite die Kanzlerdemokratie steht, ein großes Stück hin zu letzterer.

Zwang zur Kanzelertreue

Ein Kanzler kann künftig seinen Kritikern in Partei und Koalition mit der Auflösung des Bundestages drohen. Wer sich also noch traut, ihn und seine Politik zu nachhaltig zu kritisieren, riskiert das Ende der Legislaturperiode. Zum Fraktionszwang, für den die mündliche Urteilsbegründung sehr freundliche Worte fand, tritt nun der Zwang zur Kanzlertreue, nicht nur bei wichtigen Abstimmungen, sondern auch bei den vorbereitenden Diskussionsprozessen.

Es sind nicht immer die gut begründeten Urteile, die Geschichte machen. Das gestrige Urteil wird Geschichte machen, weil es einem autokratischen Regierungsstil den verfassungsrechtlichen Segen gibt. Aber die professoral-joviale Könnerschaft des Senatsvorsitzenden Winfried Hassemer bei der Urteilsverkündung kann darüber nicht hinwegtäuschen, dass dieses Urteil ziemlich lausig begründet ist.

Die Richter, die das Mehrheitsvotum für die vorzeitige Neuwahl tragen, wissen nicht so recht, ob sie sich vom diffusen Präzendenz-Urteil aus dem Jahr 1983 lösen sollen oder nicht. Die Argumentation mäandert; wirklich klar ist nur das Ergebnis, das vorzeitige Neuwahlen künftig leichter macht - so leicht, dass es sich eigentlich erübrigt, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages in die Verfassung zu schreiben. Das Gericht hat dieses Selbstauflösungsrecht quasi stillschweigend zugestanden.

Juristische Scheinexistenz

So sehen Urteile aus, bei denen zuerst das Ergebnis festgelegt und dann die Begründung gesucht wird. Die Richter haben es letztlich nicht anders gemacht als Kanzler Schröder: Der wollte partout Neuwahlen haben; und nachdem er sie am 22. Mai ausgerufen hatte, hat er nach einem halbwegs plausiblen Weg dahin gesucht und sich schließlich bei den Regierungsfraktionen das Misstrauen bestellt.

Ähnlich verfährt das Gericht: Es will die Neuwahl zulassen und hakt zu diesem Zweck Prüfungskriterien ab, die es sich zuvor so diffus zurechtgelegt hat, dass sie den Prüfungsgegenstand unbehelligt lassen. Das Gericht tut so, als prüfe es - in Wirklichkeit aber überprüft es nichts. Man will das nur nicht so deutlich sagen, wie dies die Richterin Lübbe-Wolf in ihrem Votum tut; sie sagt klipp und klar die Wahrheit: Das Prüfprogramm der Senatsmehrheit führt lediglich eine juristische Scheinexistenz - warum also dann überhaupt eine materielle Prüfung?

Lübbe-Wolf will konsequenterweise nur untersuchen, ob die formellen Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls ist es im Ergebnis so: Das Bundesverfassungsgericht errichtet keine Schranken mehr auf dem Weg zu einer vorzeitigen Neuwahl; stattdessen steht es Spalier.

Schon bisher war der Spielraum der Mehrheitsfraktionen im Bundestag zur Mitgestaltung der Regierungspolitik ziemlich geschrumpft: Der Kanzler hat die Politik in außerparlamentarische Verhandlungssysteme verlagert, Räte gegründet, den Konsens in irgendwelchen Gesprächsrunden organisiert.

Kein Grund zur Freude

Dort, nicht im Parlament, wurden die großen Linien der Regierungspolitik ausgehandelt - die Parlamentarier konnten dann allenfalls noch in Details Nachbesserung verlangen. Es fand (siehe Atomkonsens, siehe Ethikrat) ein Outsorcing aus dem Bundestag statt. Die Parlamentsdemokratie wurde geschwächt. Die vom Verfassungsgericht konzedierte kanzlergesteuerte Auflösung des Parlaments forciert diese Entwicklung; und sie trägt zur Domestizierung der Parlamentarier bei.

Die hohen Schwellen, die das Grundgesetz für die Auflösung des Bundestages errichtet hat, sind nun erheblich gesenkt. Die Staatspraxis hat ihr eigenes Recht gesetzt, und das Verfassungsgericht hat das anerkannt. Die Macht eines Kanzlers, seine potestas, steigt, weil sein souveräner Wille, seine voluntas, jetzt Rechtsqualität hat.

Für Anhänger eines starken Staates, die dessen Stärke an der Stellung des Regierungschefs messen, war gestern ein großer Tag. Anhänger eines Staats aber, die dessen Stärke an der Lebendigkeit der Parlamentsdemokratie messen, haben keinen Grund zur Freude.

© SZ vom 26.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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