Kommentar:Der anatolische Freier

Charme-Offensive: Von Premier Erdogan über Außenminister Gül bis zu den Botschaftern und Generalkonsuln schwärmen die Türken aus, um ein sich zierendes Europa zu umwerben.

Von Stefan Ulrich

In einer Disziplin beweist die Türkei allemal schon Europareife - in der Verpackungskunst. Was die Marketingexperten in Ankara da in letzter Zeit geleistet haben, verdient Respekt.

Von Premier Erdogan über Außenminister Gül bis zu den Botschaftern und Generalkonsuln schwärmen die Türken aus, um ein sich zierendes Europa zu umwerben.

Zugleich werden Journalisten und bayerische Minister in die Türkei eingeladen, damit sie mit eigenen Augen sehen können, wie schön der anatolische Freier ist - und wie sehr er einer Vereinigung mit Europa entgegenfiebert.

Zwei Werbesprüche werden dabei ständig wiederholt. Erstens: Die Türkei teilt schon heute Europas Weltbild und Werte. Und zweitens: Bis zum Beitritt in einigen Jahren wird alles noch viel besser werden.

Das Ergebnis der Charme-Offensive kann sich sehen lassen. So mancher Beitrittskritiker kommt ins Grübeln oder wechselt das Lager. Erzfeind Griechenland unterstützt mittlerweile fast geschlossen die Aufnahme der Türkei.

Und auch die gerne großen Drei der EU - Gerhard Schröder, Jacques Chirac und Tony Blair - sind längst Teil der türkischen Kampagne. Dass in den Hauptstädten daneben noch so manche Merkel mäkelt, braucht Ankara derzeit nicht besonders zu grämen.

Ein Problem aber muss Erdogan noch lösen: Er mag Europas Regierungen überzeugt haben - Europas Völker bleiben skeptisch. Und je lauter der Ruf nach Referenden über einen Beitritt wird, desto kritischer könnte diese Stimmung für Ankara werden. PR-Auftritte werden daran nichts ändern.

Gefragt ist eine Langzeitstrategie. Die Türkei muss in den kommenden Jahren erst noch beweisen, dass ihr schöner Schein nicht trügt.

© SZ vom 19.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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