Kindesmisshandlung:Die Schmach der Beulen

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Man schaut nicht mehr einfach so zu, man verschließt nicht die Ohren: Wer seine Kinder verprügelt, muss mehr und mehr damit rechnen, dass die Polizei es erfährt.

Von Ulrike Heidenreich

Tief in die Seele hinein schaute sie, in die Seele von Kindern und in die Seele von Eltern. In den Büchern von Astrid Lindgren stecken heile Welt und Herzenswärme, aber es finden sich ebenso Brüche im Leben und Machtmissbrauch. Als sie 1978 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, erzählte sie in ihrer Dankesrede, was eine alte Frau ihr aus der Zeit berichtet hatte, da sie Mutter eines Jungen war. Der hatte etwas getan, wofür er nach Ansicht der Mutter Prügel verdiente. Er sollte nun nach einem Stock suchen. Der Sohn kam nach einiger Zeit weinend zurück und sagte: "Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen."

Das trifft.

Es trifft ähnlich, wie es die Zahlen in der Kriminalstatistik von dieser Woche tun. Demnach werden Kinder in Deutschland häufiger als zuvor misshandelt. Es sind insgesamt 4233 Fälle, die der Polizei 2014 gemeldet wurden; Tendenz steigend seit zwei Jahren. Sie geschehen größtenteils im vertrauten Umfeld, die Gewalt geht aus von Eltern, von Verwandten. Es sind also zwölf Fälle pro Tag, es sind zwölf misshandelte Jungen und Mädchen, bei denen sich jemand traute, zur Polizei zu gehen. Die Dunkelziffer ist hier wohl noch höher als bei anderen Delikten. Wie lässt sich diese Statistik deuten?

Ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sagte vor einigen Jahren bei einer Befragung aus, manchmal oder oft von Erwachsenen geschlagen zu werden. Wissenschaftler sagen, dass dies in allen sozialen Milieus geschieht. Da rutscht mal die Hand aus, da setzt es einen Klaps, da gibt es etwas hinter die Ohren - wie man das halt so nennt. Kinder aus bildungsfernen und armen Familien geben etwas häufiger an, so heftig von ihren Eltern verprügelt zu werden, dass blaue Flecken, Beulen und Verletzungen bleiben. Studien führen dies auf Gewalterfahrungen zurück, die diese Eltern selbst in ihrer Kindheit machen mussten. Es ist eine Kette der Misshandlungen.

Grundsätzlich ist Deutschland auf einem guten Weg, diese Kette zu durchbrechen - so verstörend die Zahlen auch sind. Seit dem Jahr 2000 steht für Kinder das "Recht auf gewaltfreie Erziehung" im Bürgerlichen Gesetzbuch. Das ist erstaunlich kurze Zeit her, ändert aber einiges im Denken und hat auch ganz konkrete Folgen. Entwürdigende Sanktionen, körperliche wie seelische, sind strafbar geworden. Und so seltsam es klingt: dass die Zahlen von misshandelten Kindern offiziell steigen, hat damit zu tun. Es ist ein Indiz für mehr Sensibilisierung in der Gesellschaft. Man schaut nicht mehr einfach so zu, man verschließt nicht die Ohren, man geht sogar zur Polizei. Der Chef des Bundeskriminalamts spricht von einer "Aufhellung des Dunkelfeldes" und dass das wahre Ausmaß mehr und mehr erkennbar werde. Die Zahlen muss man darum jetzt aushalten.

Wenn man in dieser traurigen Geschichte also etwas Positives sehen möchte, wäre es dies: In Europa bildet sich peu à peu der Konsens, jegliches Schlagen von Kindern zu verbieten. Im März erst hatte der Europarat Frankreich gerügt, weil es die Prügelstrafe nicht eindeutig untersagt, "leichte" Züchtigungen sogar erlaubt. Nun wird die fessée, also leichte Schläge auf den Hintern, diskutiert und nicht mehr allgemein toleriert.

Wie die Geschichte von Astrid Lindgren weiterging? Die Mutter begann zu weinen, sah alles mit den Augen des Kindes. Sie nahm den Sohn in die Arme. Und legte den Stein auf ein Regal. Als Mahnung für ihr Versprechen, nie wieder zu schlagen.

© SZ vom 23.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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