Krankenversicherung:Wir sind dann mal weg

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Eine niederländische Versicherung zahlt Kranken die Pilgerfahrt ins französische Lourdes, weil sie an die heilende Wirkung des Wallfahrtsortes glaubt - ein Besuch.

Michael Kläsgen

Wiel Gotwalt hat lange in der Schlange gestanden und auf diesen Augenblick gewartet. Endlich ist er an der Reihe. Jemand von seiner Versicherung hilft ihm, sich aus dem Rollstuhl zu hieven und sich auszuziehen. Krankenpfleger wickeln ihn in ein feuchtes Tuch. Gotwalt fröstelt.

In Lourdes soll dem Mädchen Bernadette vor 150 Jahren die Jungfrau Maria erschienen sein. (Foto: Foto: AFP)

Charterflug zur Wunderheilquelle

Hier draußen an der Wunderheilquelle am Fuße der Pyrenäen ist es frisch. Vier Pfleger heben den korpulenten Mann bis zum Hals ins eiskalte Wasser, Gotwalt spricht ein kurzes Gebet und schon sitzt er wieder im Rollstuhl. "Ich glaube nicht an Wunder", sagt der ehemalige Lkw-Fahrer, so, als wolle er abgeklärt wirken.

Gotwalts Versicherung, die niederländische VGZ, die zweitgrößte Assekuranz des Landes, hat dem 57 Jahre alten kranken Mann aus Maastricht und seiner Frau die fünftägige Pilgerreise an den französischen Wallfahrtsort Lourdes bezahlt.

Die Gotwalts sind nicht die einzigen von der Versicherung gesponserten Pilger. Die VGZ hat ein ganzes Flugzeug gechartert, um Schwerkranke und Behinderte zu dem Ort zu fliegen, wo dem Mädchen Bernadette vor 150 Jahren die Jungfrau Maria erschienen war.

Wissenschaftliche Evidenz

Die Versicherung tut dies zweimal im Jahr. Diesmal sind 280 Personen mit nach Lourdes gekommen, unter ihnen 80 Freiwillige: Pfarrer, Ärzte und Krankenschwestern sowie ein Vorstandsmitglied der Versicherung und viele andere VGZ-Beschäftigte.

Den Rest stellen die Kranken und ihre Angehörigen. Auch die VGZ glaubt nicht an Wunder, da ist sie zu pragmatisch. Dafür aber ist sie von den Heilkräften der Pilgerfahrt überzeugt.

"Wissenschaftlich ist das belegt", sagt Trudy van Helmond-Donders. Die Universität in Nijmegen stellte vor drei Jahren fest, dass Pilgerfahrten einen gesundheitlichen Nutzen haben. "Die Kranken kommen gestärkt, voller Lebenskraft, Trost und Hoffnung zurück", sagt Helmond-Donders.

Seite 2: Warum der Versicherer sein Angebot ausbauen möchte

Wie viel Kosten die Versicherung spart, weil die Kranken anschließend weniger Leistungen in Anspruch nehmen, sei sekundär, meint die resolute Frau. "Wir wollen und können das nicht in Geldbeträgen beziffern. Die Reisen sind Teil unserer gesellschaftlichen Verantwortung und unseres Wertesystems", sagt sie. Nur wie viel die VGZ jährlich für die Lourdes-Reisen ausgibt, ist schwarz auf weiß dokumentiert: 250.000 bis 300.000 Euro.

Vorstand schiebt Rollstuhlfahrer

Außerdem kosten die Fahrten Helmond-Donders und ihre zwei Assistentinnen viel Arbeitszeit. Sie sind mit der Organisation der Pilgerfahrten an zwei Tagen pro Woche beschäftigt.

Die elegant gekleidete Frau mit dem Kurzhaarschnitt plant die Reisen seit 1991. Sie weiß, dass der Nutzen für die Versicherung weit über das Pekuniäre hinausgeht. Abgesehen vom Imagegewinn führen die Reisen zu einem kaum bezahlbaren sozialen Zusammenhalt; sie bringen Versicherer und Versicherte, Ärzte und Patienten, Jung und Alt zusammen. So heben sie das sonst meist unpersönliche Rollenspiel zwischen beiden auf.

Da ist zum Beispiel Vorstandsmitglied Martin Bontje. Er ist die gesamte Zeit mit in Lourdes und kümmert sich um einen Rollstuhlfahrer, genauer gesagt: Er schiebt ihn von einem heiligen Ort zum anderen. Das schafft Vertrauen und Nähe.

Bald nach Mekka?

Nach dem Handauflegen in der Kapelle des Bergdorfs Saint-Savin sitzt er vor seinem Lunchpaket im Gasthof Edelweiß in Gavarnie und sagt: "Wenn wir nur Geld machen wollten, dürften wir nicht nach Lourdes fahren. Wir sind aber eine Non-profit-Organisation. Den Gewinn reinvestieren wir wieder." Und zwar unter anderem in Pilgerfahrten.

Die VGZ überlegt sogar, das Angebot weiter auszubauen und andere Wallfahrtsorte anzusteuern. Es kam sogar die Idee auf, Mekka ins Programm zu nehmen. "Grundsätzlich ist das nicht ausgeschlossen", sagt Bontje, "es gibt bei der VGZ aber zu wenige muslimische Versicherte."

Die VGZ, die voriges Jahr mit drei anderen Assekuranzen fusionierte, versichert ein Viertel der gesamten niederländischen Bevölkerung. Zwar muss sie sparen - fast jede vierte Stelle der 4400 Beschäftigten soll gestrichen werden. Aber an den Pilgerfahrten rüttelt sie nicht. Sie sind eine Tradition des Versicherers aus dem katholischen Süden Hollands; die Reisen gibt es seit gut 80 Jahren.

Reisen verbindet

Die lange Erfahrung zeigte, dass sie nicht nur Versicherer und Versicherte stärker verbindet, sondern auch das Betriebsklima in der VGZ verbessert und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mitarbeitern stärkt. Vorstandsmitglied Bontje wohnt zum Beispiel in demselben Hotel wie auch der Postausträger der VGZ. In Lourdes, am Fuß der Pyrenäen, haben beide denselben Job: Sie schieben Rollstuhlfahrer. Hinter den Rollstühlen sind alle gleich.

Um die Aufteilung der Kranken auf die insgesamt fünf Hotels in Lourdes kümmert sich Trudy van Helmond-Donders - wer sonst? Sie überlässt das nicht dem Zufall, sondern geht nach Postleitzahl vor. Die Kranken sollen daheim möglichst nah beieinander wohnen, damit sie nachher leichter in Kontakt bleiben und sich daheim wiedersehen können.

Seite 3: Die Kritik einer liberalen Abgeordneten

Auch die Ärzte und Krankenschwestern teilt sie nach ihrer räumlichen Nähe den Kranken zu. Alle wohnen gemeinsam im Hotel, damit bei den Kranken so etwas wie Urlaubsstimmung aufkommt und sie das Gefühl haben, die Pfleger seien auf Hausvisite.

Bei der Auswahl der Pilger muss Helmond-Donders strenge Kriterien walten lassen, die Religionszugehörigkeit spielt dabei keine Rolle. Im Schnitt bewerben sich dreimal so viele Kandidaten, wie mitfahren können.

Liberale Abgeordnete übt Kritik

Die Versicherten müssen einerseits schwer krank sein, damit ihre Teilnahme gerechtfertigt ist. Andererseits müssen sie wenigstens für kurze Zeit stehen können, sonst würde ihr Transport zu aufwendig. Sie müssen zudem für die knappe Woche einen Eigenanteil von 150 Euro zahlen.

"Was nichts kostet, hat den Anschein, auch nichts wert zu sein", sagt HelmondDonders. Sie lässt aber durchblicken, Ausnahmen zu machen, und zwar auch für die Angehörigen, die eigentlich den fünffachen Betrag zahlen müssen.

An der Finanzierung der Fahrten entzündete sich in Den Haag politischer Streit auf höchster Ebene. Die liberale Abgeordnete Edith Schippers kritisierte, dass die Reisen aus den Beiträgen von Versicherten bezahlt würden, die nicht nach Lourdes fahren dürfen, weil sie nicht krank genug seien.

Die Regierung müsste die Wallfahrten sofort verbieten, rief sie den Gesundheitsminister auf. Denn sie würden jene Kosten in die Höhe treiben, die mit der Gesundheitsreform eigentlich gesenkt werden sollten. Die VGZ brachte daraufhin wieder ihr Argument vor, dass die Kosten gesenkt würden, zwar nicht messbar, aber doch wissenschaftlich nachweisbar. In zwei Wochen war der Streit vorüber.

Tatsächlich hat kein Versicherter Anspruch auf eine Wallfahrt. Es handelt sich um eine Dienstleistung der Versicherung. Helmond-Donders bezeichnet das als "Schlüssel zum Erfolg", sonst wären die Fahrten nicht finanzierbar. Teil der Dienstleistung ist die Auswahl nach Bedürftigkeit. Sie schaut sich jede Krankenakte genau an.

Kraft und Hoffnung

Die Gotwalts besuchte sie zu Hause, sprach mit ihnen, prüfte, ob Wiel stehen kann und entschied schließlich, die ursprünglich im September geplante Reise vorzuziehen. Wiel Gotwalt hat eine sehr schlechte Prognose. Er ist einer der wenigen, der sich nicht scheut, über seine Krankheit zu sprechen. "Damit die Menschen wissen, wie schnell es gehen kann", sagt er.

Bei ihm war es 2004, als die Ärzte endlich den Darmkrebs und dann den Prostatakrebs und später auch noch Knochenkrebs entdeckten. Er nimmt nun täglich 20 Medikamente, aber sie werden ihn nicht retten.

Es ist schwierig, mit seinen Söhnen über sein Leid zu reden. In Lourdes ist das anders. Hier ist er unter Schicksalsgenossen. "Danke für die unvergessliche Erfahrung. Ich habe Kraft und Hoffnung geschöpft", schreibt er auf die Tafel neben dem Speisesaal des Hotels. Allerdings brauche man ein paar Tage, um hinter all dem Nippes in Lourdes die Spiritualität des Ortes zu entdecken.

© SZ vom 21./22.06.2008/jpm/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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