Karlsruhe: Die Verhandlung zur Neuwahl:Richter blicken ins Kaleidoskop

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So viel Wirbel war nie im und um das Bundesverfassungsgericht zu Karlsruhe. Und es hat in seiner 54-jährigen Geschichte schon manchen hoch politischen Prozess mit prominenten Beteiligten erlebt. Eine Reportage von Helmut Kerscher

Zu dieser mündlichen Verhandlung über die Neuwahl wäre das Gericht vielleicht besser in das nahe Schloss umgezogen oder, noch besser, ins Wildparkstadion. Dort jedenfalls hätten all die nach Bild und Ton gierenden Journalisten Platz gefunden, die entweder gar nicht in das Gebäude dürfen oder jedenfalls nicht auf die Pressetribüne.

Sie drängen sich im plötzlich viel zu engen Presseraum unter dem Sitzungssaal, um der Verhandlung wenigstens über Lautsprecher folgen zu können. So ist es nur ein bisschen wie im Wildparkstadion, bei einem Pokalspiel: Zwei Mannschaften kämpfen um den Sieg, wissend, dass es kein Unentschieden geben wird. Wie es ausgeht, erfahren sie freilich auch nach Spielende nicht.

Erwartungsgemäß angriffslustig präsentiert sich das Team der Kläger mit den Abgeordneten Jelena Hoffmann, SPD, und Werner Schulz, Grüne, samt ihren Prozessbevollmächtigten Hans-Peter Schneider und Wolf-Rüdiger Schenke.

Farbige Hemden und Formulierungen

Die beiden sehr authentisch wirkenden Politiker bringen von Anfang an Farbe ins Spiel, nachdem der Senatsvorsitzende Winfried Hassemer mit dem Ruf "Das ist das Ende des deutschen Fernsehens!", die Kameras samt Scheinwerfern hinauskomplimentiert hat. Das gilt schon optisch, weil sich Frau Hoffmanns helle Jacke und Herrn Schulzens blaues Hemd mit offenem Kragen aus der Masse der schwarzen und grauen Anzüge abheben.

Aber die beiden Kläger fallen auch durch farbige Formulierungen immer wieder auf, als sie, nach der Einführung durch Hassemer und den Berichterstatter Udo Di Fabio, jeweils eine Viertelstunde zu Wort kommen. So sagt die mit russischem Akzent sprechende Jelena Hoffmann in Anspielung auf Kanzler Schröders umstrittenen Weg zu Neuwahlen, es führten zwar alle Wege nach Rom, wenn der Weg aber über Moskau genommen werde, "kann man sich leicht verfahren" .

Später kommentiert sie die Vertrauensfrage des Kanzlers trotz vorhandener Mehrheit mit der Frage: "Warum kratzen wir uns mit der rechten Hand am linken Ohr?" Alle SPD-Fraktionsmitglieder hätten doch Vertrauen zu ihrem Kanzler, "aber der fühlte es nicht". Richtig lebendig wird es erst, als kurz nach Mittag "high noon" beginnt, die Fragerunde des Gerichts nach den Stellungnahmen des Bundesinnenministers Otto Schily und der vier Professoren als Prozessbevollmächtigte. Für den Bundespräsidenten sprach Joachim Wieland, für die Bundesregierung Bernhard Schlink.

Sperre für den Wortschwall

Zwar kratzt sich niemand mit der rechten Hand am linken Ohr, aber spätestens , wenn Vizepräsident Hassemer mit der Rechten seinen orangefarbenen Bleistift wie ein Dirigent schwingt oder sich nach vorne beugt und mit der Linken an die Nase fasste, herrschte Alarmstimmung. Dann bremst er den Wortschwall der Redner ("Sie antworten sehr großflächig, Herr Schenke") oder versucht mühsam, Ordnung in die zahlreichen Wortmeldungen seiner Nebenleute auf der Richterbank zu bringen. Die angekündigte Mittagspause verschiebt sich immer mehr, weil sich auch Schily noch ein drittes Mal melden, oder weil Schlink wieder die "große Freiheit im politischen Prozess" beschwören muss: den viel zitierten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum von Bundeskanzler und Bundespräsident gegenüber einer etwaigen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.

Alle, wirklich alle beziehen sich immer wieder auf das erste Karlsruher Urteil zu einer vorgezogenen Bundestagsauflösung im Jahr 1983. Damals verlief die Verhandlung vergleichsweise gemütlich. Auch am 17. Januar 1983 ging es um Klagen gegen die Auflösung des Bundestags, auch damals war die Bundesregierung durch den Innenminister (Friedrich Zimmermann, CSU) vertreten und der Bundespräsident (Karl Carstens) durch seinen Staatssekretär (Hans Neusel). Das Gericht unter Vorsitz von Vizepräsident Wolfgang Zeidler gönnte sich und den Prozessbeteiligten, wie damals üblich, gleich zwei Stunden Mittagspause - dieses Mal springt nur eine Stunde heraus.

Nach netto viereinhalb Stunden war seinerzeit die Verhandlung beendet, kaum aufgehalten durch Fragen des Gerichts, das ausschließlich aus Männern bestand. Nur der Dienstjüngste, der damals 53-jährige Berichterstatter Ernst Gottfried Mahrenholz, hatte Fragen gestellt. Der sitzt nun gut 23 Jahre später mit dem emeritierten Politikprofessor Wilhelm Hennis im Zuschauerraum. Ein anderer Aktiver jener Verhandlung steht und redet auch dieses Mal in der ersten Reihe vor dem Hohen Senat: der heute 63-jährige Professor Wolf-Rüdiger Schenke, als Prozessbevollmächtigter von Werner Schulz.

Noch ein Fragezeichen

Die Schlussbemerkung des damaligen Vorsitzenden hätte Hassemer glatt aus der 83er Verhandlung übernehmen können. Die Verhandlung habe deutlich gemacht, sagte Zeidler seinerzeit, "dass dies eine schwierige, wichtige und denkbarer Weise sehr in die Zukunft reichende Sache sein wird". So war es damals, so ist es nun. Darauf weist in einer Frage Richter Mellinghoff hin, der künftig für Partei- und Wahlrecht zuständig ist

Das Urteil von 1983 mit seinen vielen Facetten, das wie ein Kaleidoskop sei, müsse der Senat nun "vielleicht präzisieren, um für die Zukunft Sicherheit zu schaffen". Je länger das Frage-Antwort-Spiel dauert - und es dauert länger als vorgesehen, bis gegen 16 Uhr -, desto unklarer wird die Art dieser Präzisierung.

Wird Karlsruhe künftig dem Kanzler und dem Bundespräsidenten den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen noch bequemer oder noch schwerer machen? Eine ganze Kaskade von Richterfragen gilt zum Schluss jedenfalls nochmals dem Kernproblem, ob das Bundesverfassungsgericht auf eine bloße "Missbrauchskontrolle" beschränkt sei oder auch die "Plausibilität" der Entscheidung des Bundespräsidenten und der vorausgegangenen des Bundeskanzlers prüfen dürfe. "Plausibilität" ist das am zweithäufigsten verwendete Wort in der Verhandlung.

Noch öfter wird nur von "Vertrauen" gesprochen - nicht nur im Zusammenhang mit der rechtlichen Bewertung von "echten", "unechten" oder "auflösenden" Vertrauensfragen. "Antragssteller" wie "Antragsgegner" bekunden dem Gericht ihr Vertrauen. Bald wird sich eines der beiden Teams in diesem Vertrauen etwas enttäuscht sehen. Vielleicht sehr bald. Denn der Senatsvorsitzende Winfried Hassemer schl ießt die Verhandlung mit einer so überraschenden wie sibyllinischen Warnung: "Vorsicht! Es könnte sehr schnell gehen!"

Damit gibt er Prozessbeteiligte n wie Berichterstattern ein weiteres großes Fragezeichen mit auf den Weg. Das Gerichtsgebäude bleibt vorläufig in Stille zurück.

© SZ vom 10.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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