Jugoslawien-Tribunal:Strafpredigt des Chefanklägers

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In Belgrad demonstriert die Friedensinitiative "Frauen in Schwarz" gegen den Freispruch für Šešelj und erinnert an den Beginn des Bosnien-Krieges. (Foto: imago)

Serge Brammertz kritisiert, beim Freispruch des Serben Vojislav Šešelj am Haager Tribunal seien die Richter "fundamental gescheitert".

Von Stefan Ulrich, München

"Sine ira et studio", "ohne Zorn und Eifer", habe er seine Annalen geschrieben, versicherte der römische Historiker Tacitus seinen Lesern. Sine ira et studio sollte auch ein guter Jurist an seine Fälle herangehen. Und Serge Brammertz ist ein guter Rechtsexperte, und ein erfahrener obendrein. Der 54 Jahre alte Belgier, der im deutschen Freiburg seinen Doktor machte, arbeitete etliche Jahre als stellvertretender Ankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, bevor er 2008 Chefankläger des Jugoslawien-Tribunals wurde. Dort hat Brammertz viel erlebt, kaum etwas kann ihn noch aus der Ruhe bringen. Umso mehr verblüfft der Ton der Erklärung, die er diesen Mittwoch vorgelegt hat. Sie deutet auf ein scharfes Zerwürfnis an dem UN-Gericht hin.

In dem Dokument erklärt der Chefankläger, er werde gegen den Freispruch des serbischen Politikers und Kriegshetzers Vojislav Šešelj in Berufung gehen. Das Urteil erster Instanz vom 31. März, das Šešelj vom Vorwurf der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Jugoslawienkriege in den Neunzigerjahren freispricht, enthalte "weitreichende Irrtümer". Die Mehrheit der Strafkammer - das Urteil fiel mit zwei Stimmen zu einer - habe Beweise außer Acht gelassen, Schlussfolgerungen nicht richtig begründet und etablierte Grundsätze des Völkerstrafrechts missachtet.

Vertreibung als humanitäre Hilfe? Das Urteil macht manche Juristen fassungslos

Vor allem kritisiert Brammertz die Auffassung der Richter, die Vertreibung kroatischer oder bosniakischer Zivilisten durch serbische Einheiten sei womöglich eine Form humanitärer Hilfe gewesen. Unverständlich findet Brammertz es, dass das Gericht die Hassreden Šešeljs, in denen er zu ethnischen Vertreibungen und Morden aufrief, nicht als Straftaten bewertete, sondern als aufmunternde Worte zur Hebung der Moral der serbischen Truppen. Das Urteil des Chefanklägers über die beiden Richter ist vernichtend: Sie seien "fundamental dabei gescheitert, ihre richterliche Aufgabe zu erfüllen".

Am Jugoslawien-Tribunal gab es immer wieder heftige Auseinandersetzungen, ein derart scharfer, öffentlich geführter Angriff ist "allerdings mehr als außergewöhnlich", wie Wolfgang Schomburg, ein früherer Richter des Tribunals, sagt. Auch Schomburg hält das Urteil für "abwegig" und für "voller Rechtsirrtümer". Andere Völkerstrafrechtler sehen das ähnlich. Besonders verblüfft sie, dass die beiden Richter im Šešelj-Verfahren das bisherige Bild, das das Tribunal in vielen Prozessen von den Jugoslawien-Kriegen erarbeitet hat, fundamental infrage stellen, und zwar mit knapper Begründung.

Bislang geht das Tribunal davon aus, dass es im zerfallenden Jugoslawien ein kriminelles Gesamtunternehmen serbischer Akteure gab, um ein Großserbien zu schaffen und dafür andere ethnische Gruppen wie Kroaten oder Bosniaken gewaltsam zu vertreiben. Die beiden Richter im Šešelj-Verfahren sagen jetzt, das lasse sich nicht ausreichend beweisen. "Das ist fast schon ein Frontalangriff auf die bisherige Arbeit des Tribunals", sagt der Kölner Völkerstrafrechts-Professor Claus Kreß. "Da geht ein tiefer Graben durch die Kammer und wahrscheinlich auch durch das ganze Gericht."

Der Vorsitzende Richter des Šešelj-Prozesses, Jean-Claude Antonetti, ist Franzose. Frankreich hat historisch enge Beziehungen zu Serbien und zeigte während der Jugoslawien-Kriege lange viel mehr Sympathie für Serbien als andere westliche Staaten. Will nun Antonetti die Geschichte, wie sie das Jugoslawien-Tribunal aufgearbeitet hat, im serbischen Sinne umschreiben? Dafür gibt es keine Beweise. Auch in der Vergangenheit gab es schon - unbelegte - Vorwürfe an Richter des Tribunals, sie ließen sich von politischen Motiven leiten. Dem amerikanischen Gerichtspräsidenten Theodor Meron wurde vorgehalten, er versuche das Völkerstrafrecht restriktiver auszulegen, damit US-Truppen bei Auslandseinsätzen nicht belangt werden können.

Wie angespannt die Stimmung am Tribunal ist, zeigt die abweichende Meinung der dritten Richterin im Šešelj-Prozess. Die Italienerin Flavia Lattanzi hält den Serben für schuldig im Sinne der Anklage. Weil er serbische Kämpfer zu Verbrechen aufhetzte, sie trainieren ließ und mit Waffen ausstattete, sei er für deren Taten mitverantwortlich. Ihre Kollegen hätten den Freispruch auf irrelevante Überlegungen gestützt und nicht berücksichtigt, dass etliche Zeugen der Anklage von Šešelj und dessen Helfern massiv eingeschüchtert wurden. In einem Interview legte sie nach, das Urteil sei so fehlerhaft, "dass es nichtig ist". Darüber muss jetzt die Berufungskammer entscheiden. Der Völkerstrafrechtler Kreß sagt: "Man reibt sich die Augen bei der Vorstellung, dass dieser Freispruch bestehen bleiben könnte."

© SZ vom 09.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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