Jugendgewalt:"Die kulturellen Schranken der Gewalt verschwinden"

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Mustafa gegen Igor, Igor gegen Max und Max gegen Mehmet. Der Kriminologe Christian Pfeiffer über die Folgen von Gewaltspielen, die Probleme bei der Integration - und was die Aufgabe der Schule sein müsste.

Thorsten Denkler

Christian Pfeiffer leitet das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen. Der frühere Innenminister von Niedersachen erforscht bis Ende des Jahres im Auftrag des Bundes erstmals deutschlandweit die Strukturen der Jugendgewalt.

Kriminologe Christian Pfeiffer (Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Herr Pfeiffer, laut Kriminalstatistik ist die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen gestiegen. Ist nicht eher die Bereitschaft der Opfer gestiegen, zur Polizei zu gehen?

Christian Pfeiffer: Beides stimmt. Nach unseren Forschungen hatten wir bis 2005 entgegen der Polizeilichen Kriminalstatistik stabile bis rückläufige Zahlen. Aber wir nehmen an, dass es dort, wo die sozialen Gegensätze massiv aufeinander prallen, wo die Gewinner/Verlierer-Kultur immer ausgeprägter wird, real Zuwächse von Jugendgewalt stattgefunden haben. Auf der anderen Seite steht eine erfreulich stark ansteigende Anzeigebereitschaft.

sueddeutsche.de: Woran liegt das?

Pfeiffer: Offensichtlich wirkt sich hier sehr positiv aus, dass die Polizei an den Schulen eine gelungene Vertrauenswerbung betreibt. Jugendliche Opfer werden so mit Erfolg motiviert, die Dinge nicht passiv hinzunehmen oder sich privat zu rächen, sondern den offiziellen Weg zu nehmen. Gut ist auch, dass sich die Schulen immer stärker für die Polizei geöffnet haben. Sie erstatten inzwischen selber Anzeige, wenn etwas Ernsthaftes vorgefallen ist.

sueddeutsche.de: Sie raten jugendlichen Opfern, sofort zur Polizei zu gehen. Müssen sie nicht die Rache der Täter fürchten?

Pfeiffer: Dass es zu Racheakten kommt, ist die große Ausnahme. In aller Regel werden die Schläger, Räuber und Mobber klein beigeben, wenn sie merken, dass sie richtig Ärger bekommen. Sie haben selbst Angst sich zu rächen. Weil wenn dann das Opfer wieder zur Polizei geht, wird alles noch viel schlimmer für sie. Dumm dran sind diejenigen, die passiv bleiben. Die Täter wissen, mit denen kann man es ja machen.

sueddeutsche.de: Warum sind vor allem Jungen betroffen?

Pfeiffer: Wir haben eine wachsende Leistungskrise der Jungen. Ihr Medienkonsum ist weitaus höher als unter Mädchen. Jedes Jahr sinkt die Zahl der Jungen, die Abitur machen, und steigt die Zahl derer, die die Schule ohne Abschluss verlassen.

sueddeutsche.de: Als Königsweg heißt es schnell, gebt ihnen Arbeit oder einen Ausbildungsplatz, dann wird alles besser. Reicht das?

Pfeiffer: Nein, nein. Das Problem beginnt mit der Gestaltung der Nachmittage. Da gibt es sehr große Unterschiede. Den einen wird von zu Hause viel geboten, Musik, Sport, gemeinsames Spiel. Die anderen schauen buchstäblich in die Röhre.

sueddeutsche.de: Das heißt?

Pfeiffer: Wenn beide Eltern einen Hauptschulabschluss haben, dann haben 57 Prozent ihrer Kinder einen eigenen Fernseher im Zimmer. Haben beide Eltern Abitur, haben 16 Prozent der Kinder eine eigenen Fernseher. In der ersten Gruppe bringen es Zehnjährige auf einen Medienkonsum von drei Stunden und mehr. Hier ist eine wachsende Medienverwahrlosung zu beobachten, die mit dem Konsum von Gewaltspielen und Gewaltvideos einhergeht. Das hat eine mangelnde Sensibilität im Umgang mit Gewalt zur Folge, die sich dann später in den polizeilichen Zahlen dokumentiert.

sueddeutsche.de: Wie wollen Sie die Kinder vom Fernseher wegbekommen, wenn es die Eltern nicht machen?

Pfeiffer: Die Aufgabe des Staates wird sein, den Ausbau von Ganztagsschulen massiv zu fördern. Das haben im Bund und in den Ländern auch alle erkannt. Ich würde mir nur mehr Entschlossenheit wünschen, das zu einer obersten Priorität zu machen.

sueddeutsche.de: Wer sind die Täter und wer ihre Opfer?

Pfeiffer: Da hat sich etwas gewandelt, was uns große Sorge bereitet. Früher war es Max gegen Moritz und Mustafa gegen Mehmet. Heute ist es Mustafa gegen Igor, Igor gegen Max und Max gegen Mehmet. Einstmals bestehende kulturelle Schranken der Gewalt verschwinden zunehmend. In den Städten zumindest müssen wir konstatieren, dass die Jugendgewalt Ausdruck nicht gelungener Integration ist.

sueddeutsche.de: Innenminister Schäuble hat gesagt, dass sich gerade an der sinkenden Zahl der Straftaten von Ausländern eine gelungene Integration ablesen lasse.

Pfeiffer: Für die Erwachsenen stimmt das auch. Bei den Jugendlichen in den Städten beobachten wir das Gegenteil. Ein Beispiel: In München hat sich zwischen 1998 und 2005 die Gewaltkriminalität unter türkischen Jugendlichen nach unseren Forschungen deutlich erhöht. Parallel dazu sank der Anteil junger Türken auf Münchener Gymnasien von 18 auf 13 Prozent. Hier ist die Integration nicht gelungen. Herr Schäuble wird die Auffassung teilen, dass Anlass zur Sorge besteht.

sueddeutsche.de: Sie erforschen gerade in Schäubles Auftrag, warum in manchen Regionen die Integration der Kinder mit Migrationshintergrund besser klappt als woanders. Haben sie schon erste Einsichten?

Pfeiffer: Noch nicht. Aber aus voran gegangenen Studien wissen wir: Der Kindergarten scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Wenn Mehmet mit Max und Moritz im Sandkasten aufwächst, lernt er spielend Deutsch, wird sozial schnell integriert und sitzt in der ersten Grundschulklasse neben seinen deutschen Kumpels. Sitzt Mehmet nur mit Mustafa im Kindergarten, wenn er überhaupt dort hingeht, dann spricht er kein Deutsch und nimmt nicht am sozialen Leben in der deutschen Gesellschaft teil. Es bleibt eine getrennte Welt. Mit teuren Sprachkursen lässt sich das nur schwer wieder auffangen.

sueddeutsche.de: Wie wollen Sie das ändern? Eine Kindergartenpflicht ist sehr umstritten.

Pfeiffer: So weit muss es auch nicht kommen. In Kanada etwa werden in den Einwanderungsregionen in jedem Kindergarten 25 Prozent der Plätze für Migrantenkinder freigehalten. Dort wachsen sie von ganz alleine in diese Gesellschaft hinein. Die Eltern nehmen lange Anfahrtswege in Kauf, damit ihre Kinder mit einheimischen Freuden spielen. Dazu müssen wir in Deutschland auch kommen.

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