Interview mit Joschka Fischer:"In der Geschichte geht es nicht zu wie im Gesangverein"

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Joschka Fischer sieht sich als Vorkämpfer für ein stärkeres Europa. Mit der EU-Verfassung glaubt er die Union auf dem richtigen Weg, um sich ihrer größten Herausforderung zu stellen: der Neudefinition der strategischen Ziele des Westens und der Demokratisierung des Mittleren Ostens.

SZ: Herr Fischer, Gratulation zur europäischen Verfassung. Ist es nicht schade, dass sie wohl nie in Kraft treten wird? Fischer: Ich verstehe diese finsteren Prophezeihungen nicht. Ich bin sicher, sie wird in Kraft treten. Diese Verfassung ist eine große Leistung aller beteiligten 28 Staaten - erst recht, wenn Sie bedenken, dass es die EU der 15 Staaten in Nizza damals nicht geschafft hat. Die Verfassung muss jetzt noch ratifiziert werden. Da wird es einige Aufregung geben, aber am Schluss tritt sie in Kraft.

Ist sich sicher, dass die EU-Verfassung ein Erfolg wird - Außenminister Joschka Fischer. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Woher nehmen Sie diese Sicherheit angesichts der Europa-Skepsis, die sich bei den Wahlen zeigte? Fischer: Die Erweiterung der EU und ihre Verfassung gehören zusammen. Und die Geschichte wird sich nicht aufhalten lassen. Dafür muss jetzt jeder in seiner Nation werben.

SZ: Dann werben Sie doch mal. Fischer: Die Verfassung hat Probleme gelöst, die ein Jahrzehnt ungelöst blieben. Das Parlament ist sehr gestärkt worden. Und die Entscheidungen in der EU werden einfach und transparent.

SZ: Das sehen Kritiker anders. Fischer: Zugegeben: Der Modus, wie im Europäischen Rat abgestimmt wird, hat ein paar Girlanden bekommen. Doch die sind in der Realität unbedeutend. Wichtig ist, dass Entscheidungen leichter getroffen werden können. Das Verhältnis der EU zu den Staaten ist klar geregelt, die nationalen Parlamente spielen eine große Rolle. Wir haben einen europäischen Außenminister und einen ständigen Ratsvorsitzenden. Und die Rolle des Kommissionspräsidenten ist geklärt.

SZ: Wir vermuten, Sie werden uns auch seinen Namen nennen. Fischer: Da vermuten Sie falsch.

SZ: Berlin und Paris sind mit ihrem Kandidaten, dem Belgier Guy Verhofstadt, beim EU-Gipfel durchgefallen. Fischer: Das ist eine naive Sicht, wie sie Frau Merkel verbreitet. Uns war immer klar: Wir brauchen einen Konsens. Interessant ist, dass Frau Merkel mit ihrer parteipolitischen Sichtweise in die Gräben zurückgelaufen ist, die sich auftaten, als sich im Irak-Konflikt acht EU-Staaten an die Seite der USA stellten.

SZ: Das Scheitern Verhofstadts zeigt doch vor allem das Misstrauen gegen deutsch-französische Bevormundung. Fischer: Gelesen habe ich das auch. Nur: Ich kann diese Darstellung in der Realität nicht finden. Und ich war dabei.

SZ: Warum ist die Verfassung nicht - wie versprochen - lesbar geworden? Fischer: Haben Sie mal die Steuerartikel im Grundgesetz gelesen? Entscheidend ist doch, dass die Verantwortlichkeiten und Abläufe klar sind. Und es geht nicht nur um Institutionen. Wir haben die Grundrechte in der Verfassung. Das hat große Bedeutung, etwa wenn Sie an die Terrorgefahr denken. Mehr europäische Befugnisse bei Fragen der inneren Sicherheit setzen die Definition der Grundrechte voraus. Das ist gelungen.

SZ: Und das reicht, um die Distanz vieler Bürger zu Europa zu beseitigen? Fischer: Die Meinung, die Leute seien europafeindlich, ist falsch. Die Menschen sehen genau, was an Wohlstand, Arbeitsplätzen, Sicherheit von Europa abhängt. Richtig ist, dass Europa noch anonym wirkt. Es war der Fehler der Volksparteien, bei der Europawahl nicht mit Personen anzutreten, die man kennt, mit denen man sich identifiziert, die Gewicht haben. Die Grünen haben das getan. Und das Ergebnis kennen Sie.

SZ: Würde das EU-Parlament aus seiner Mitte den Kommissionspräsidenten wählen, wären die Wahlen attraktiver. Fischer: Da bin ich dagegen. Die EU ist das Europa der Bürger und der Staaten. Dieser Doppelcharakter wird auf lange Zeit erhalten bleiben. Man kann die gewachsenen nationalen Identitäten, wie sie in den Nationalstaaten zum Ausdruck kommen, nicht ignorieren.

SZ: Lassen sich die Bürger durch Verfassungsreferenden wie in Großbritannien oder Polen für Europa gewinnen? Fischer: Ich kann mich da nur auf Pat Cox berufen, den Präsidenten des Europaparlaments. Der sagt, in den irischen Referenden zum Nizza-Vertrag ging es um alles Mögliche, um die ganze Palette irischer Innenpolitik, nur nicht um den Vertrag. Um ähnliches bei einem Verfassungsreferendum zu vermeiden, müsste man die Frage eindeutig stellen. Ja heißt: Weiter und mit dieser Verfassung. Nein heißt: Raus aus der EU.

SZ: Was würde es bedeuten, wenn die Verfassung in Referenden scheitert? Fischer: Darüber werde ich nicht spekulieren. Als Außenminister habe ich einen positiven Erwartungshorizont. Und ich warne vor Dramatisierung: Manche Dinge müssen eben erst einmal reifen.

SZ: Selbst wenn die Verfassung kommt, heißt das nicht, dass alle in der EU mit gleichem Elan voranschreiten. Fischer: Die Verfassung erlaubt unterschiedliche Geschwindigkeiten innerhalb der EU. Entscheidend ist, dass alle, die auf einem bestimmten Politikfeld mitmachen können und wollen, dies auch dürfen. Wer nicht will, muss nicht - aber er darf die anderen nicht aufhalten.

SZ: Entsteht ein Patchwork-Europa? Fischer: Nein. Es wird immer eine große Mehrheit mitmachen. Deshalb trifft auch der Begriff Kerneuropa nicht mehr zu. Große Mehrheiten können Sie nicht als Kern bezeichnen.

SZ: Sie sprechen stattdessen inzwischen vom "strategischen Europa", mit seiner Bedeutung für die Weltpolitik. Dabei wird die EU auf Global Player wie die USA, Indien oder China treffen. Das sind alles Nationalstaaten. Müsste sich Europa nicht auch dahin entwickeln? Fischer: Meine Zustimmung haben Sie sofort. Aber die EU besteht nicht nur aus den Integrationisten Fischer und Süddeutsche Zeitung.

SZ: Welche strategischen Interessen sollte Europa künftig in der Welt verfolgen? Fischer: Nach dem Kalten Krieg war die Diskussion um eine neue Weltordnung zunächst diffus. Der 11.9. machte dann die Herausforderung klar: Die wirtschaftliche Globalisierung muss politisch gestaltet werden. Falls der Westen darüber zerfällt, müssen wir alle einen hohen Preis bezahlen. Bei einer gemeinsamen Neudefinition der strategischen Ziele werden wir hingegen alle gewinnen. Das meine ich mit einer Neudefinition des Westens.

SZ: Wird diese Wahrnehmung in Washington geteilt? Fischer: Jein. Klar ist doch, dass wir zwei Faktoren haben: Die reale Macht, die bei der Supermacht USA liegt. Und die Legitimation, die gerade auch für die USA in ihrer demokratischen Tradition wichtig ist. Diese Faktoren muss man zusammenführen. Da spielt die Reform der Vereinten Nationen eine große Rolle. Und auch die europäische Einigung. Wir haben es mit Weltproblemen zu tun, die einzelne Staaten nicht lösen können.

SZ: Sie hoffen also, dass die Wucht der Probleme die Welt zusammenführt? Fischer: In der Geschichte geht es nicht zu wie im Gesangverein. Die Modernisierung in Europa hat im 20. Jahrhundert zu furchtbaren Kriegen geführt, zu totalitären Systemen, zum Holocaust. Nur: Gleichzeitig gab es verantwortliches staatsmännisches Verhalten, das sich an Grundsätzen orientierte, die auch wir wahren müssen. Die Vernunft muss nicht erzwungen werden, sie ist da. Sie muss nur mobilisiert werden.

SZ: Die neue Herausforderung liegt vor allem im Mittleren Osten. Fischer: Ja. Ich war gerade in den Golfstaaten. Da haben wir es mit sehr jungen Bevölkerungen zu tun. Die machen sich auf den Weg. Aber der wirtschaftliche Aufbruch und der staatliche Überbau passen nicht zusammen. Die Frage ist, in welche Richtung wird das gehen? Wird das in neue Konflikte, in Kriege, in Terrorismus führen? Oder gelingt es uns mitzuhelfen, dass sich diese Staaten modernisieren und demokratisieren, damit die Menschen ihre Entwicklungschancen friedlich wahrnehmen?

SZ: Wird in den islamischen Staaten diese Reformnotwendigkeit verstanden? Fischer: Ja, in aller Ambivalenz. Es gibt Systeme, die vorausschauend genug sind, sich vorzubereiten. Andere tun sich schwer. Aber alle Regierungen wissen: Der Terrorismus zielt nur vordergründig auf Amerika. Das eigentliche Ziel ist die arabische Halbinsel. Es geht um die Zerstörung Israels, um die heiligen Stätten, um eine islamistische Revolution. Der Bevölkerungsdruck in der Region ist hoch. Darin liegt ein enormes Potenzial - zum Guten wie zum Schlechten. Unsere Sicherheit hängt davon ab, welchen Weg die Gesellschaften des Mittleren Ostens gehen. Deshalb muss Europa ihnen helfen, sich liberal zu entwickeln. Im Übrigen: Auch deshalb muss die Verankerung der Türkei in der EU gelingen. Die Aufnahme der Türkei wäre der D-Day für die Modernisierung des Mittleren Ostens - und damit für den Kampf gegen den Terror.

Das Interview führten Nico Fried und Stefan Ulrich.

© SZ vom 25.5.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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