Interview:"EU-Staatsbürgerschaft wäre die Krönung"

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Die Europäische Union wächst und wächst - ganz im Gegensatz zum Europa-Bewusstsein ihrer Bürger. Bernd Oswald sprach zum Europatag am 9. Mai mit Politik-Professor Werner Weidenfeld über europäische Identität und Staatsbürgerschaft.

sueddeutsche.de: Mit der Erweiterung der EU um zehn Staaten nimmt auch die Heterogenität zu: kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch. Was ist das Band, das Europa zusammenhält?

Werner Weidenfeld, Professor für Politikwissenschaft (Foto: Universität München)

Werner Weidenfeld: In der europäischen Geschichte gibt es so etwas wie eine Art Grundgesetz: Eine große Zahl unterschiedlicher Traditionen, Mentalitäten, kultureller Strömungen trifft auf engem Raum aufeinander. Daraus ergibt sich eine ganz natürliche Spannung.

Diese Spannung hat in der Geschichte Europas einerseits zu kulturellen Großleistungen geführt, andererseits zu zerstörerischem Herrschaftswillen. Die Geschichte Europas kennt die Bergpredigt genauso wie das Wörterbuch des Unmenschen. Insofern ist die europäische Integration eine logische Antwort darauf, diese produktive Seite Europas organisieren zu wollen. Das macht den großen historischen Auftrag der Integration aus.

sueddeutsche.de: Wie kann sich eine europäische Identität entwickeln?

Weidenfeld: Durch gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame Herausforderungen, vielleicht auch einmal gemeinsame Enttäuschungen. Seine Identität beschreibt man normalerweise nicht positiv aus sich selbst heraus, sondern in Abgrenzung zu anderen. Erst dadurch macht man eine solche Identitätserfahrung. Außerdem hat es etwas mit dem Zusammenhang zu tun, in dem Identitätsfragen aufgeworfen werden. Denken Sie allein an die Auseinandersetzung um den Irak mit den USA.

Da geht einem ein "Wir Europäer haben da eine andere Wahrnehmung" viel leichter über die Lippen. Aber das braucht seine Zeit. In den Mitgliedstaaten hat sich die nationale Identität über Jahrhunderte herausgebildet. Da werden wir noch einige Zeit brauchen, um eine ähnliche Dichte zu haben, wie auf nationaler Ebene.

sueddeutsche.de: Heißt das, dass wir einfach 50 oder 100 Jahre warten müssen, bis sich die Leute als Europäer fühlen?

Weidenfeld: Ein Stück weit brauchen wir natürlich Zeit, um diese Erfahrungen zu machen. Ich habe den Eindruck, dass sich die Geschwindigkeit dieser Lernprozesse steigert. Am Ende wird es eine balancierte Schichtung sein aus europäischer, nationaler und regionaler Wahrnehmung.

sueddeutsche.de: Inwieweit hat der Euro identitätsstiftend gewirkt?

Weidenfeld: Es ist schon ein beachtlicher Schritt, dass Symbole, die zum Kern nationaler Identität gehörten, ohne wirklich revolutionären Widerstand aufgegeben wurden zugunsten eines europäischen Symbols. Damit wird der Wahrnehmungshorizont der Beteiligten auch ein bisschen europäischer. Wir nehmen jetzt politischen Entscheidungen in den anderen Euro-Staaten wahr, die währungsrelevant sind.

Es ist in Deutschland von Interesse, ob die Franzosen die Stabilitätskriterien einhalten, ob die Spanier sagen, es macht doch nichts, wenn die Deutschen die Stabilitätskriterien nicht einhalten. Wir sind also mit dem Werkzeug und mit dem Magnet der Währung noch mal enger zusammengerückt.

sueddeutsche.de: Was bringt eine Unionsbürgerschaft? Hilft das auch bei der Identifikation nach dem Motto: Ich bin jetzt ja auch Europäer, das ist meine zweite Staatsangehörigkeit?

Weidenfeld: Gegenwärtig sind wir schon Unionsbürger mit einer einzigen konkreten Konsequenz, nämlich dass wir bei Kommunalwahlen in einem anderen EU-Staat als unserem eigenen stimmberechtigt sind.

Bei der Freizügigkeit stößt man EU-weit schnell an Grenzen, weil bestimmte Diplome nicht anerkannt werden und es komplizierte Übergangsregelungen gibt. Daher macht eine doppelte Staatsbürgerschaft langfristig Sinn: Die seines Nationalstaates und die der Europäischen Union.

Denn dann könnte man sich entsprechend frei bewegen und frei niederlassen, was bisher trotz Binnenmarkt nur eingeschränkt realisiert ist. Eine gemeinsame Staatsbürgerschaft würde den europäischen Integrationsprozesss krönen.

(sueddeutsche.de)

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