Indien:Von Göttern und Dirnen

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Die Tempelprostitution ist auf dem indischen Subkontinent längst verboten, doch im Untergrund gibt es sie noch immer. Viele Unberührbare glauben, eine Tempeldienerin absorbiere mit sexuellen Akten negative Energien.

Manuela Kessler

Das Tempelfest war eine Orgie der grellen Farben und schrillen Töne. Die Wucht der Eindrücke überwältigte Yamuna Bai. Hunderttausende hinduistische Gläubige, die Gesichter mit Gelbwurzpulver gefärbt, sahen zu, wie sie zusammen mit Dutzenden anderen Mädchen der Gottheit Yellamma geweiht wurde.

Indische Prostituierte bei einer Demonstration - von den Tempeldienerinnen gibt es kaum Fotos. (Foto: Foto: Reuters)

Der Tempel in Saundatti, einem kleinen Ort im südindischen Bundesstaat Karnataka, war einst berühmt für die Zeremonie, die jeweils bei Vollmond im hinduistischen Monat Magh stattfand. Die Tradition verlangte, dass langhaarige Eunuchen-Priester die Riten vollzogen.

Sie mussten den Lämmern, die der unberührbaren Göttin Yellamma als Opfer dargebracht wurden, die Kehle durchbeißen.

Der Geruch von Blut hing in der Luft, als die Mädchen, die zu Tempeldienerinnen geweiht werden sollten, in einer Prozession ins Heiligtum gebracht wurden. Sie trugen rote Saris wie für eine richtige Hochzeit.

Yamuna Bai erinnert sich noch gut daran, wie sie betend vor einen Priester trat. Er legte ihr ein Halsband aus weißen und roten Perlen um-zum Zeichen der Vermählung mit der Gottheit. Ein Ältester aus ihrem Dorf erhielt das Vorrecht der ersten Nacht. Sie war noch nicht einmal geschlechtsreif, als die Eltern sie im irrigen Glauben hergaben, die Göttin werde ihnen im Gegenzug aus ihrem Elend helfen.

Der Yellamma-Kult, der unter den Unberührbaren in Teilen Südindiens verbreitet ist, besagt nämlich, dass eine Tempeldienerin mit sexuellen Akten negative Energien absorbiert.

Nach der Weihe ins Bordell

Der Aberglaube geht auf die sehr alte Tradition zurück, den Tempeln für rituelle Zwecke Tänzerinnen zu schenken. Es gibt unterschiedliche Erklärungen, wie dieser Brauch degenerierte und letztlich zur Tempelprostitution führte.

Einig sind sich die Fachleute darüber, dass die Yellamma-Liebesdienerinnen weithin als göttlich verehrt wurden, bevor christliche Moralvorstellungen, die mit den britischen Kolonialherren Einzug hielten, sie ihrer Aura beraubten. Was übrig blieb, war ungeschminkte Prostitution.

Yamuna Bai wurde kurz nach ihrer Weihe zur so genannten Devadasi über dubiose Wege an ein Bordell in der Industriestadt Bhiwandi verkauft. Das ist nun etwa drei Jahrzehnte her. Die Tempelprostitution ist inzwischen gesetzlich verboten. Wer ein Mädchen der Göttin Yellamma weiht, riskiert bis zu fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 5000 Rupien, umgerechnet sind das etwa 95 Euro.

Die Zeit der großen Tempelfeste ist endgültig vorbei. Doch der Yellamma-Kult lebt im Untergrund weiter. Im so genannten Devadasi-Gürtel, der sich über die südindischen Bundesstaaten Maharastra, Karnataka und Andhra Pradesh erstreckt, werden Jahr für Jahr weiterhin Tausende Mädchen der Gottheit geopfert. Die nationale Frauenkommission befürchtet, dass es noch immer etwa eine Viertelmillion Tempelprostituierte gibt.

In der indischen Wirtschaftsmetropole Mumbai gibt es nach Erkenntnissen der Polizei Auktionen, wo die jüngsten und schönsten Mädchen für 1300 Euro versteigert werden - als Sexsklavinnen. Nach Bhiwandi gelangt nur die so genannte zweite Wahl.

Yamuna Bai, umgeben von ihren Kindern. (Foto: Foto: Kessler)

Die graue Stadt, die etwa 50 Kilometer nordöstlich von Mumbai liegt, gilt als Manchester von Indien.

Es gab Zeiten, da rackerten hier eine halbe Million muslimische Wanderarbeiter an mechanischen Webstühlen. Unter schlimmsten Bedingungen produzierten sie ein Drittel aller in Indien hergestellten Stoffe, billige Massenware.

Weit bessere und günstigere Produkte aus China haben aber in den vergangenen Jahren jedoch auch den indischen Markt erobert. Bhiwandi gleicht immer mehr einer Geisterstadt: Die Mehrheit der Betriebe hat die Arbeiter entlassen und die Maschinen verschrottet. Wer konnte, zog weiter.

Doch tausende Prostituierte blieben zurück: Devadasis, Witwen, Nepalesinnen - verkauft und ausgestoßen von der Gesellschaft. Selbst wenn sie sich frei gekauft haben wie Yamuna Bai, gibt es für sie keinen anderen Ort als den Rotlichtbezirk. Er besteht in Bhiwandi aus engen Gassen, die im Schatten der Webereien liegen.

Ein Kunde zahlt 90 Cent

Unter dem Rattern der Maschinen und mit Blick auf den Abflusskanal sitzen die Dirnen auf den Vorsprüngen vor ihren Zimmern und warten auf bessere Tage. Bevor die ortsansässige Textilindustrie in die Krise geriet, hatten sie bis zu zehn Kunden täglich zu bedienen - für jeweils 50 Rupien. Das sind 90 Cent.

Die Hälfte der Einkünfte sackte die Puffmutter ein. Was übrig blieb, legten sie zum Teil zurück für Zeiten, in denen sie nicht mehr anschaffen konnten. Die beste Altersvorsorge sind in den Augen der Prostituierten allerdings Kinder.

Fast jede von ihnen hat eines oder zwei. Es ist noch nicht lange her, dass die Kleinen im Rotlichtbezirk herumtollten, wenn die Mütter arbeiteten - bis tief in die Nacht. Den verwahrlosten Kindern hing ein solches Stigma an, dass keine Schule sie freiwillig aufnahm.

Ihr Weg ins älteste Gewerbe der Welt war so gut wie vorgezeichnet, bevor das indische Hilfswerk Apne Aap ein Kinderheim in Bhiwandi eröffnete. Es habe ihr fast das Herz gebrochen, sagt Yamuna Bai, aber ihr sei nichts anderes übrig geblieben, als Raju und Guja - er sechs, sie drei Jahre alt - dorthin zu geben. Die beiden sollten es einmal besser haben als sie.

© SZ vom 20.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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