Henning Scherf:Zwei Meter Eigensinn

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Warum der Sozialdemokrat aus dem Norden im Moment lieber mit seinen Freunden von der Union zusammen ist als mit dem eigenen Kanzler.

Reymer Klüver

(SZ vom 19.5.2003) - Manchmal führt der Bürgermeister selbst durch das Rathaus. Das macht er gern. In der Alten Halle, in die an sonnigen Nachmittagen vom Marktplatz her das Licht durch das bunte Glas der Spitzbogen-Fenster weich hereinströmt, weist er dann auf eine Inschrift, hoch oben auf mittelalterlichem Gemäuer. Einer seiner fernen Vorgänger hat sie anbringen lassen, dunkle Buchstaben auf fahlem Grund. Bald sieben Jahrhunderte dürften sie schon überdauert haben. "Im Geiste der Beratung", ist dort zu lesen, seien die politischen Geschicke zu lenken. "Eine tolle Sache,", sagt der Bürgermeister und lächelt so, wie er immer lächelt, wenn er Menschen für sich gewinnen will: ein breites Grinsen, das die Zähne im Ober- und Unterkiefer weit entblößt und immer den Bruchteil einer Sekunde länger anhält, als man es erwartet. "Ich zitier' das", sagt er, "immer mit Herzblut."

Henning Scherf will nur in einer großen Koalition weiterregieren (Foto: dpa)

Nicht, dass man diese Geschichte überstrapazieren sollte. Aber es passiert doch eher selten in Deutschland, dass der Bürgermeister und Ministerpräsident eines Bundeslandes Leitlinien seines politischen Handelns ausgerechnet am Beispiel einer gotischen Minuskel-Inschrift erläutert. Natürlich weiß er genau, wie schön diese Regierungsanweisung aus längst versunkenen Zeiten passt dieser Tage. Da es darum geht, ob sein Land weiterhin getragen wird vom Geist der Beratung, jedenfalls so, wie er ihn definiert: im großen Konsens der großen Koalition.

Oder aber, ob die parteipolitische Polarisierung der Republik nun auch den kleinen Stadtstaat, sein geliebtes Bremen, erfasst und sich zwei Lager bilden, Rot-Grün versus Schwarz-Gelb.

Ein politisches Traumpaar

Henning Scherf, 64 Jahre alt, seit acht Jahren Präsident des bremischen Senats und Chef der dienstältesten großen Koalition in einem Bundesland, ist einer der etwas anderen Politiker im Lande. Was nicht nur daran liegt, dass er stets und überall nach heißem Wasser verlangt, wenn andere Tee oder Kaffee wollen oder längst beim Bier sind. Dass er ohne Body-Guard auskommt und auf den Chauffeur verzichtet, der ihm von Amts wegen zusteht, und lieber Fahrrad fährt oder selbst den Mercedes steuert (der natürlich auch kleiner ausfällt als die Dienstwagen seiner Kollegen in anderen Ländern). Dass er in einer Art Wohngemeinschaft lebt-oder was sonst noch an Scherfschen Eskapaden aufgezählt wird, wenn von seinem unkonventionellen Charakter Rede ist.

Das hat alles, zweifellos, zu seinem Ruf als eigensinniger Kopf geführt. Doch entscheidend ist eigentlich die ungeheure Wandlung des Sozialdemokraten Scherf, eine Veränderung, die mit der Installation der großen Koalition 1995 begann und die man sich kaum weniger dramatisch als die des Saulus zum Paulus vorstellen mag.

Aus dem Kapitalistenfresser, der das Lob eines IG-Metall-Funktionärs als Ritterschlag empfand und den ein Bremer Bankier glattweg als Belastung für den Standort beschimpfte, wurde der umworbene Freund der Wirtschaft. Einst linker Flügelmann und Kaffeepflücker im sandinistischen Nicaragua, macht Scherf heute pragmatische, mitunter beinharte Sanierungspolitik. So gut arbeitet er, der Kriegsdienstverweigerer und Gegner des Nachrüstungsbeschlusses, heute mit seinem Partner von der CDU zusammen, dem früheren Berufssoldaten und heutigen Finanzsenator des Stadtstaates, Hartmut Perschau, dass sie in der Stadt als politisches Traumpaar gelten. Scherf polarisiert längst nicht mehr. Er steht für Konsens. Konsens aber muss man sich erarbeiten. Was er vielleicht nicht nur aus politischer Überzeugung tut.

Scherf hat viele Rollen: Er ist letzter Patriarch einer im Strukturwandel mürbe gewordenen einstigen 50-Prozent-Partei, Übervater einer Koalition, die allein und ausschließlich an ihm hängt, und parteiübergreifende Identifikationsfigur immerhin für ein ganzes Bundesland, wenn es auch das kleinste ist. Er hat Zustimmungsraten, von denen Gerhard Schröder sowieso, aber auch die meisten seiner Kollegen in den Ländern nur träumen können.

Wenn nicht alles täuscht, wird es allein an Henning Scherf liegen, sollte die SPD in knapp einer Woche nach drei Katastrophen in Folge bei der Bürgerschaftswahl in Bremen erstmals nicht abstürzen, sondern stärkste Kraft im Bundesland Bremen bleiben.

Es ist ein Wahlkampf, den Scherf gleich in doppelter Hinsicht gegen die eigene Partei führt. Denn er, der einstige Grünen-Freund, hat sich ganz den Schwarzen verschrieben, nennt die Polit-Ehe mit ihnen "einen Segen für Bremen". Was nun wirklich nicht die reine Lehre der Partei widerspiegelt. Die hält offiziell alles offen für die Zeit nach der Wahl. Scherf aber sagt nur: "Ich kann doch nicht plötzlich schlechtreden, was acht Jahre lang gut funktioniert hat." Zähneknirschend akzeptieren die Genossen die Festlegung, weil sie wissen, dass sie ohne ihn verloren wären.

Den zweiten Teil der Scherf-Doktrin tragen sie da schon eher mit: Kontaktsperre zur Bundesprominenz der Sozialdemokraten. Scherf versucht sorgsam, das heimtückische Virus Bundespolitik von Bremen fern zu halten. Keinen Ton lässt er sich zum Reformstreit in der SPD entlocken. "Ich kann die Wahl total verhageln, wenn ich dazu beitrage, dass wir in Bremen über die Bundespolitik abstimmen", sagt er der Gewerkschaftsspitze der Stadt, die ihn in vertrauter Runde zu markigem Einschreiten wider die Zumutungen aus Berlin ermuntert.

Doch das ist ein Spiel. Die Gewerkschafter ahnen, dass sie den Mann, der schon vor acht Jahren als Modernisierer des Stadtstaates angetreten ist, nur schwerlich gegen den Großsanierer der Republik in Stellung bringen werden. Und Scherf wiederum weiß, dass er mit den Leuten im DGB-Haus reden muss, will er nicht aus Skeptikern Gegner seines Sanierungskurses machen, so wie es Gerhard Schröder im Bund passiert.

Scherf hat sich allerdings jeden Großauftritt Seit' an Seit' mit dem Parteivorsitzenden und Kanzler verbeten. Ein Betriebsbesuch und eine Kurzvisite im Rathaus war das Mindeste, was die Höflichkeit gebot, und das Äußerste, was der Instinkt Scherfs erlaubte. So auffällig ist die Quarantäne-Politik, dass Scherf sich im Interview genötigt sah, gutes Einvernehmen mit Schröder jedenfalls zu behaupten: "Das stimmt nicht, was viele denken, ich würde ihn nicht mögen."

Sie kennen sich lange Jahre und wissen, was sie voneinander zu halten haben. Schröder verstehe seine Haltung ganz gut. Sagt Scherf über den Mann im Kanzleramt, der ihm schon mal ein mit blauem Filzstift rasch hingeworfenes Billetdoux schickt, mit der doppelsinnigen Anrede: "Mein lieber großer Freund".

Der Zwei-Meter-Mann Scherf ist Profi genug, um den zielgerichteten Umgang seines alten Juso-Kumpels Gerd mit Freundschaften richtig einzuschätzen. Und doch legt er das Papier aus Berlin unter die Plastikfolie der Schreibunterlage auf seinem Schreibtisch. So grundverschieden sie sonst sein mögen, schonungslos pragmatisch sind sie beide. Vielleicht verläuft die Grenze da, wo Pragmatismus in Opportunismus übergeht. Einen Opportunisten hat Scherf noch niemand gescholten.

Überhaupt dieser Schreibtisch. Kreisrund ist er, aus hellem Holz geleimt. Es ist das Geschenk von ein paar Handwerksburschen und eigentlich ein riesiger Konferenztisch. Scherf führt ihn gerne vor. Auch die Schreibunterlage. Die ganze Familie hat er hier versammelt in bestimmt zwei Dutzend Fotos: seine Frau ("meine Luise"), die Älteste mit den Enkelkindern, der Sohn mit Enkelkindern, die zweite Tochter mit Lebensgefährtin.

Darunter hat er ein Zitat aus dem Markus-Evangelium geheftet, ein Schnipsel, mit Schreibmaschine geschrieben: "Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes." Daneben Schröders Zettel und ein Gruß von Johannes Rau. Und ein Brief von Hans-Jochen Vogel. Den hat er so gefaltet, dass die letzte Zeile in der krakeligen Schrift des alten Herrn zu entziffern ist: Der dankt dafür, "dass Du Mut machst".

Es stapeln sich keine Papiere auf dem Schreibtisch. Aktenstudium ist Scherfs Sache nicht. Das Gespräch liegt ihm viel mehr. Und er sucht, wie kein anderer Politiker in Deutschland geradezu körperlichen Kontakt. Um zu begreifen, könnte man sagen. Man könnte ihn aber auch, wie es mancher in Bremen freundschaftlich-despektierlich macht, Henning den Knutscher nennen, weil er andauernd Menschen umarmt.

"Durchscherfen" sagen sie auch, wenn er, zum Beispiel, ganz allein, ohne Personenschutz und andere wandelnde Insignienträger der Macht um sich herum, über den Bremer Marktplatz läuft und in alle Richtungen grüßt, in breitestem Bremisch "Tach auch" sagt. "Kennen Sie mich?", fragt er Leute, die ihn anstarren und den Riesen mit dem ergrauten Bürstenschopf natürlich kennen, "ich bin Ihr Bürgermeister."

Und klopft ihnen, als könnte jeder Ermunterung brauchen, mit seinen großen Händen auf die Schultern. Tätschelt der Oma, die staunend stehen geblieben ist, den Arm. Und sagt: "Herzlichen Gruß von Ihrem Bürgermeister." Wozu er sein Haupt tief zu der alten Dame hinabbeugen muss. "Freundschaftliche Nähe" nennt Scherf das. Er hat sie zu seinem persönlichen Politikkonzept erhoben. Man könnte das auch als Umarmungsstrategie bezeichnen, darauf angelegt, das Gegenüber mit Charme zu entwaffnen und für sich einzunehmen.

Bei der "Gestra" zum Beispiel, einem alten Bremer Unternehmen, das Dampfdruck-Armaturen herstellt, klappt es hervorragend. Auszubildende in der Buchhaltung fragt Scherf: "Hallo ihr lieben jungen Frauen, wie geht es in einem Männerbetrieb?" Die Mädchen kichern und himmeln ihn an. Dem Leiter der Abteilung Regelungstechnik trägt er "schöne Grüße an Zuhause" auf, weil er dessen Eltern vor Jahren einmal kennen gelernt hatte.

Der Mittdreißiger ist hocherfreut. Und beim Abschied ergreift Scherf mit beiden Händen den Unterarm des Geschäftsführers, der zwar Personal abbauen, aber den Betrieb in Bremen halten will, und sagt: "Der Mann ist ein Mutmacher." Und schüttelt den Arm im Rhythmus seiner Worte. Das wirkt.

Es ist ungefähr das größte Lob, was Henning Scherf verteilen kann. Weil Grund zur Hoffnung geben für ihn zweifellos eine der großen Tugenden im Leben ist. Scherf ist bekennender Christ, Lutheraner. Das hat er vom Vater, einem Mitglied der Bekennenden Kirche, der von den Nazis ins KZ gesteckt wurde. Immer sei es ihm wichtig gewesen, sagt einer, der ihn lange beobachtet hat, dass er nicht der linke SPD-Politiker Scherf ist, sondern der linke Christ.

"Ich bin stolz auf Sie"

Wie sehr sich in seinem Leben linke Gesinnung und protestantische Konsequenz durchdrungen haben, zeigt vielleicht eine Geschichte, die Scherf spät abends und nach einem langen Arbeitstag erzählt, auf dem Heimweg aus dem Stadtteil Tenever im Osten der Stadt. Menschen findet man hier, die vom Leben nicht gerade begünstigt sind. Riesig sind die Wohnmaschinen und so auch die Probleme des Quartiers.

Doch es war ein schöner Termin, die Jubiläumsfeier eines Nachbarschaftsvereins, der sich seit 20 Jahren müht, die Verhältnisse zu ändern. "Ich bin stolz auf Sie", hat Scherf ihnen gesagt, "auf Menschen, die nicht nur klagen, sondern das Beste draus machen." Das hat die Leute vom Nachbarschaftsverein gefreut, das zu sagen hat auch ihm sichtlich gefallen. Außerdem gab es zu den belegten Broten für ihn extra ein Glas heißes Wasser.

Er kennt Menschen wie diese gut, sagt Scherf nun auf dem Rückweg im dunklen Auto. Früher, als die Kinder noch klein waren, hat er mit seiner Familie selbst in Wohnsiedlungen gelebt. Bewusst. Bei den Wählern, für die man als Sozialdemokrat einstehen wollte. Und in Wohnungen, von denen man als Politiker behauptete, sie seien gut genug für die Masse der Menschen in der Stadt. Dann sind sie auch gut genug für einen selbst. Gesinnung genügte nicht. Er hat sie sich auch hart erarbeitet. Da war er ganz konsequent. Andere Zeiten.

"Sozialromantiker" haben ihn seine Kinder später geschimpft. Allerdings nicht deswegen. Sondern weil er vor ein paar Jahren doch in die Innenstadt gezogen ist, in ein geräumiges weißes Haus, mit Freunden auf sechs Etagen, einem Garten mit einer prächtigen alten Blutbuche und einem Gemeinschaftsauto für alle. Am Wochenende kochen sie zusammen. Und die Kinder kommen immer öfter zu Besuch mit den Enkeln. "Ein richtiges Drei-Generationen- Haus", sagt Scherf und lächelt sein Scherf-Lächeln.

Im Souterrain wird er sich ein Büro einrichten, mit Blick auf die Buche. Wenn er aufhört, in zwei Jahren vielleicht. Oder am kommenden Montag.

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