Helmut Schmidts Deutschland:Zeitzeugen

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Man könnte seine eigene "Geschichte der Bundesrepublik in 100 Objekten" schreiben. Auf die Liste gehörten ein 50-Mark-Schein, Uwe Seelers Trikot, die Sonnenbrille von Andreas Baader, die LP "Tago Mago" und Schmidts Mütze.

Von Kurt Kister

Eigentlich sind nun alle Nachrufe auf Helmut Schmidt geschrieben oder gesendet worden - jene, die den Jahrhundertmann gewürdigt und eingeordnet haben ebenso wie die, welche auch der Bedeutungsfeststellung des Nachrufenden ("ich und Helmut Schmidt") dienten. Schmidts langes Leben und sein Tod berührten so viele wohl nicht nur, weil der Ältestkanzler nach seiner Politikerkarriere auch noch eine einzigartige Laufbahn als fernsehgerechter arbiter rerum publicarum durchlaufen hat, als Richter über die öffentlichen Angelegenheiten. Nein, Schmidt war mehr. Er war der vielleicht letzte sehr prominente Westdeutsche. Mit ihm ist wieder ein Stück der allmählich verschwindenden alten Bundesrepublik dahingegangen.

Das klingt zunächst sonderbar, weil es 2015 in Deutschland doch viele Millionen Kinder und Enkel Westdeutschlands gibt, jedenfalls mehr als solche, die noch selbst bewusst in der DDR gelebt haben. Diese DDR, das für die im Westen immer "andere" Deutschland, ist heute schon viel tiefer im Nebel der Geschichte verschwunden als die Bundesrepublik. Nicht einmal mehr die Linkspartei pflegt dort, wo sie wirklich stark ist, also im Osten, das Erbe oder auch nur das Andenken der DDR noch sehr intensiv. Gewiss, die Älteren in der Linken tun das vielleicht, aber auch bei denen ist es mehr ein "Genossen, wisst ihr noch" als dass man ernsthaft die Vergangenheit für eine politische Alternative in der Zukunft hält. Die DDR ist weitgehend musealisiert und ihre einstigen Granden sterben eher leise.

Aber auch die Bundesrepublik, nein, die BRD, gibt es immer weniger. Zum einen war Westdeutschland der stetige Versuch, es diesmal besser zu machen als 1918, das nach 1933 führte. Zum anderen aber definierte sich die BRD eben auch als das Gegenmodell zur DDR. Im Westen wussten Politiker und Intellektuelle immer, was sie und Deutschland nicht sein wollten oder sollten. Allerdings wollte man, je nach politischem Standpunkt, sehr unterschiedliche Dinge nicht sein. Darüber entbrannte so heftiger Streit unter Linken und Rechten, unter Konservativen und Sozialdemokraten, dass die Definition des Positiven, dessen was Deutschland nach Auschwitz sein oder werden sollte, viel seltener versucht wurde.

Die BRD, und das Kürzel sei benutzt als Synonym für das untergehende alte Westdeutschland, dauerte von 1949 bis irgendwann in die Neunzigerjahre. Ihr erster Kanzler war Konrad Adenauer, ihr letzter eigentlich Helmut Kohl, in Wirklichkeit aber Helmut Schmidt. Zu Schmidts gesamter Regierungszeit war die große Lage so wie immer: Blockkonfrontation, nukleare Abschreckung, begrenzte Souveränität Deutschlands, ein vorsichtig kooperierendes Westeuropa mit einer, in erster Linie ökonomisch bedingten Wir-sind-wieder-wer-BRD. Während der ersten Hälfte der Ära Kohl blieb das alles so. In der zweiten Hälfte wurde es sehr anders. In diesem Sinn war Schmidt der letzte westdeutsche und Kohl der erste Kanzler des Übergangs. Noch ist ungewiss, wohin der Übergang Deutschland führt.

Natürlich ist in der heutigen Bundesrepublik jede Menge alte BRD, viel mehr als alte DDR. Und dennoch lassen sich viele Beispiele, und sei es im Rahmen eines analytischen Anekdotismus, finden, wie sehr vergangen auch die BRD schon ist.

Die Literatur Westdeutschlands? Die Leitfiguren, nicht nur die aus der Gruppe 47, sind nicht mehr unter uns, sieht man von Martin Walser ab. Heinrich Böll starb 1985 als erster des Trios der Großen, Günter Grass (2015) und Siegfried Lenz (2014) sind ihm kürzlich gefolgt. Ihr Werk drehte sich um das große westdeutsche Thema, die Identitätsfrage des Schreibens und Lebens nach Auschwitz. Sie gehören heute zum Bildungskanon, aber wirklich gelesen, gar viel gelesen, werden sie nicht mehr. Kein Missverständnis: Dies ist keine Klage über den Zustand der aktuellen Literatur. Die ist bunt, interessant, gelegentlich schrecklich, manchmal großartig. Und sie hat kein überwölbendes Thema. Aber die westdeutsche Literatur, Grass, Lenz, Andersch, Bachmann und Weiss, die Schweizer (doch, das geht) Frisch und Dürrenmatt, verrissen und gelobt von Reich-Ranicki oder Raddatz - die ist nicht mehr Gegenwart.

Die Wirtschaft? Fast hundertjährig starb vor zwei Jahren Berthold Beitz, der letzte der westdeutschen Nachkriegs-Tycoons. Seine Biografie ist mit der Schmidts in dem Sinne zu vergleichen, als dass beide noch im Schatten des Kaiserreichs geboren wurden und beide aus der Nazi-Zeit gelernt hatten, was anders sein sollte im neuen Deutschland. Das war nicht bei allen westdeutschen Magnaten so, die zum Teil aus Familien stammten, die unter den Nazis erheblich profitiert hatten. Gerade der Drang zum bedingungslosen Wachstum charakterisierte auch die BRD der früheren Jahre. Dazu gehörte eine manchmal empörende Geschichtsvergessenheit, aber auch die Entwicklung der Sozialpartnerschaft, die ein Teil des ökonomischen Erfolgsgeheimnisses der BRD war.

Man könnte längst eine persönliche "Geschichte der BRD in 100 Objekten" schreiben. Dazu zählten nicht nur ein Wachturm von der DDR-Grenze, sondern auch ein 50-Mark-Schein, ein BMW 2002 tii und Uwe Seelers Wembley-Trikot. Es wäre hinzuzufügen die LP Tago Mago der Band Can, die Sonnenbrille von Andreas Baader, ein Mitgliedsausweis der IG Druck und Papier sowie eine Akte aus dem Auschwitz-Prozess, vielleicht auch Helmut Schmidts Prinz-Heinrich-Mütze oder eine Boccia-Kugel Adenauers.

Viele Westdeutsche werden ihre eigene 100-Objekte-Liste aufstellen können. (Dasselbe gilt natürlich für die DDR und die Ostdeutschen.) Es ist ein interessantes Gedankenexperiment, denn wenn man, allein oder mit anderen, überlegt, was alles auf so eine Liste gehört, merkt man, ohne bereits wirklich alt zu sein, wie sehr vieles bereits vergangen, gar versunken ist, was man eigentlich noch recht frisch als Teil des eigenen Lebens betrachtet.

Und da kommt man wieder zu Helmut Schmidt: Für fast alle, die nach 1940 geboren wurden, war Schmidt immer da. Er war Zeitzeuge, Zeuge unserer Zeit. Sein Tod hat auch uns zu Zeitzeugen gemacht, aber zu Zeugen unserer Vergangenheit.

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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