Haltern und Llinars del Vallès:Bis Montag ein Idyll

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Irgendwie muss man das alles ja zum Ausdruck bringen: Schüler und Lehrer am Mittwochvormittag vor dem Joseph-König-Gymnasium in Haltern. (Foto: Lars Heidrich/Waz Fotopool/action press)

Eine Kleinstadt in Westfalen, eine Kleinstadt in Katalonien: der Versuch zu fassen, was nicht zu fassen ist. Und die Geschichte eines tragischen, letzten Freundschaftsdienstes.

Von Bernd Dörries und Oliver Meiler, Haltern/Llinars del Vallès

"Es lässt sich hier gut leben", sagt Heinrich P. auf dem Marktplatz von Haltern. Es ist ein Satz, der einen anderen Klang bekommt in diesen Tagen. Wie so viele andere auch. Weil nicht mehr alle da sind, nicht mehr alle leben. Heinrich P. war gerade in der Kirche, hat ins Kondolenzbuch geschaut und gesehen, wer vor ihm schon da war aus der kleinen Stadt, wer jemanden vermisst. P. ist Rentner, seit einigen Jahren schon, er geht in der Früh aus dem Haus und schaut, wer sonst noch so da ist, in den Cafés und auf den Plätzen. "Na, lebst du noch?", so haben sie sich immer begrüßt, diejenigen, die eher am Ende des Lebens stehen als am Anfang, dann haben sie gelacht. Jetzt erzählt P., wie viele er kennt, die ein Kind verloren haben. "Das haut schon rein", sagt er, dann kommen ihm die Tränen.

Man sieht sie überall in Haltern, einen Tag nachdem die Stadt nördlich des Ruhrgebiets erfahren hat, dass 16 Schüler aus dem Joseph-König-Gymnasium an Bord waren, und zwei Lehrerinnen. Die eine hatte gerade geheiratet, die andere hatte es vor. Das sind die Geschichten, die man sich am Mittwoch überall erzählt in Haltern. Dabei reibt man sich die Augen.

Haltern, das war bisher eine Stadt ohne Sorgen. Wenn das Ruhrgebiet eine Stadt wäre, dann wäre Haltern der bessere Vorort - mit hübscher Innenstadt und dem schönen Stausee, der die Stadt etwas größer machte. Leitende Angestellte aus Essen ziehen gerne hierher, der frühere Fußball-Nationalspieler Christoph Metzelder ist bis heute bei seinem Heimatverein TUS Haltern aktiv. Mehr Idylle kann man kaum bekommen in diesem Teil des Landes.

"Früher waren wir viele - heute sind wir allein", haben die Schüler auf ein Plakat im Hof geschrieben. Das Gymnasium ist eine Europa-Schule, und vor sieben Jahren haben sie angefangen, auch den spanischen Teil Europas kennenzulernen. Weil mehr Schüler aus Haltern mitwollten als Plätze vorhanden waren, wurde ausgelost, wer mitfliegen durfte. Diejenigen, die eine Niete zogen, fühlten sich damals wahrscheinlich ein wenig als Verlierer.

Der Schulleiter beendete den Unterricht per Durchsage. Nur ein paar Worte gelangen ihm

Am Dienstag gab es eine Durchsage über die Lautsprecher. Der Unterricht sei für heute beendet, sagte Schulleiter Ulrich Wessel. Man solle sich aber nicht freuen, der Grund sei ein trauriger. Mehr brachte Wessel nicht heraus. Am Nachmittag kehrten viele zurück und zündeten Kerzen an. Auf dem Hof, wo sonst so viele immer ein Handy in der Hand haben, bleiben die Telefone in der Tasche. Sonst war jede Kleinigkeit eine Nachricht wert. Jetzt scheint die Nachricht zu groß zu sein für ein paar Zeichen. Am Dienstagabend läuten die Glocken eine Stunde lang.

Die Schule hat am Mittwoch schon früh ihre Türen geöffnet, und viele sind gekommen. Keiner soll alleine trauern. Die Schulministerin ist um sieben Uhr aus Düsseldorf gekommen, Sylvia Löhrmann (Grüne) war früher selbst einmal Lehrerin und sagt: "Den Schmerz kann keine Macht der Welt nehmen. Wir können ihn nur teilen, und aus dem gemeinsamen Teilen kann ein wenig Trost erwachsen."

Etwa fünfzig Seelsorger begleiten den ersten Tag nach der Katastrophe. Es gibt Notfallpläne für solche Situationen, wer wann wen anruft in der Telefonkette. Aber für die Trauer, für die solle es keinen Plan geben, sagt Löhrmann: "Wenn jemand weint, dann weint er. Wenn jemand still ist, dann ist er still." So wird es die kommenden Tage sein, und wohl auch Wochen. Wie es danach weitergeht? Ob jemals wieder Schüler nach Spanien fliegen werden? All das wird Schulleiter Wessel schon gefragt am Mittwoch. Er sagt: "Ich weiß nicht einmal, wie ich den nächsten Tag überstehen soll."

Man habe eine fröhliche Gruppe zu einer fröhlichen Reise verabschiedet. Zurück bekommen hat man nur den Tod. "Es sind ganze Lebensentwürfe zerplatzt." Ein knappes Jahr hatten die sechzehn Schüler Spanisch gelernt. Für viele war es die erste große Reise ohne die Eltern, der Beginn des richtigen Lebens.

Es muss eine schöne Woche gewesen sein. So schön, dass man sie fast gar nicht gehen lassen wollte in Spanien.

Es war früh morgens in Llinars del Vallès, vor sechs Uhr, als die Klasse den schmucklosen Ort im industriellen Hinterland von Barcelona, fünfzig Kilometer vom Flughafen El Prat entfernt, verlassen sollte. Viel geschlafen hatten sie nicht. Am Vorabend war man in einer Pizzeria essen gegangen. Die Gastfamilien brachten die deutschen Gäste am Morgen zum Bahnhof von Llinars. Manche spanische Schüler mochten sich nicht schon dort von ihren deutschen Freunden trennen. Sie fuhren mit zum Flughafen, Terminal 2, nahmen in kauf, dass sie es nicht zurückschaffen würden zum Schulbeginn.

Als das Mädchen merkte, dass es seinen Pass vergessen hatte, waren die Gasteltern schon unterwegs damit zum Flughafen. Sie sollen sich beeilt haben, damit die Schülerin Flug 4U 9525 auch ja nicht verpasse. Als dann die Nachricht vom Absturz der Maschine nach Llinars drang, schürte der Vorfall mit dem Reisepass am Instituto Giola eine Zeit lang eine verzweifelte Hoffnung. Es ging das Gerücht um, die Gasteltern hätten es womöglich doch nicht rechtzeitig geschafft, man sei sich nicht sicher, ob die Schülergruppe überhaupt an Bord gehen konnte. Dann kam die traurige Gewissheit.

An der Schule richteten sie einen Krisenstab ein. Psychologen kümmerten sich um die erschütterten Schüler. Eine Ambulanz des Roten Kreuzes fuhr vor - und kurz darauf der Tross der Medien, drängend. Über eine schöne Tradition hatte sich eine Tragödie gelegt. Diese Austauschwochen bringen immer etwas Welt in den Ort. Seit zehn Jahren. Llinars zählt nur 9000 Einwohner. Da s Instituto Giola bietet Deutsch als zweite Fremdsprache an. Deutsch ist hier ein Versprechen für die Zukunft, eine Art Versicherung, ein Trumpf für die berufliche Karriere. Viele deutsche Industriefirmen haben in Katalonien eine Niederlassung: Autos, Pharma, Maschinen. Und viele Katalanen drängt es nach Deutschland, wenn es in Spanien an wirtschaftlichen Perspektiven mangelt.

Sonntagabend in Llinars: Spanier und Deutsche schauten zusammen das große Fußballspiel

Wer den Deutschkurs zu Ende bringt, bis zum Schluss der Sekundarschule nach dem zehnten Schuljahr also, der darf am beliebten Austauschprogramm teilnehmen. Es gibt sie überall in der Region. Auch das Colegio Ginebró von Llinars organisiert sie regelmäßig. Eine Gruppe mit 43 Schülern aus Hamburg war nun in derselben Zeitspanne in der Stadt wie die Schüler aus Haltern. Sie reisten am Mittwoch zurück. Geplant war, dass sie alle mit Germanwings fliegen. Doch ein Teil der Gruppe zog es nun vor, mit dem Zug nach Hause zu reisen.

Diese Austauschprogramme sind nur dank der tiefen Preise der Billigflieger für alle erschwinglich. In manchen Schulen gibt es zudem Fonds für Familien, die sich auch die Billigreisen nicht leisten können. Die Aufenthalte sind eine Mischung aus sprachlicher, kultureller und persönlicher Erkundung der Fremde. Da s Instituto Giola organisierte Ausflüge nach Barcelona, nach Girona, in die zweitgrößte Stadt Kataloniens, und nach Sitges, zu einem pittoresken Küstenort im Süden. Die Tour gibt einen guten Eindruck von der Region. Noch wichtiger aber scheint, gerade in diesem Alter, der Austausch mit ausländischen Kindern zu sein. Am Sonntagabend, so erzählt es eine Frau in der Bar la Plaça, einem Café am Hauptplatz von Llinars, war eine Gruppe der Schüler aus Haltern in einem Restaurant, um sich den Clásico anzusehen, das Fußballspiel zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid.

Es herrscht gerade viel Aufregung in der Kleinstadt, viel Verwirrung auch. Man ist hier keine Medien gewohnt, und schon gar keine ausländischen. Nun stehen plötzlich britische, deutsche, französische Fernsehteams vor dem Backsteinbau der Schule, filmen Schüler in Tränen. Reden mögen die Kinder nicht. Es gab eine Schweigeminute an der Schule, eine kurze Gedenkveranstaltung. Ohne Medien.

In der Sixtuskirche in Haltern haben sie das Gabelkreuz, das Kruzifix mit den gebogenen Seiten, am Dienstag vor den Altar gestellt, wo es eigentlich erst zu Ostern hinkommt. "Heute ist Karfreitag", hat der Pfarrer gesagt. Das hat es nicht einmal zum Tod des Papstes so gegeben. Es sind Symbole, die noch etwas zählen in einer Stadt wie Haltern.

Draußen vor dem Tor steht Heinrich P. und erzählt von all der Trauer, von denen, die nicht mehr da sind. Und von all den Gesprächen, den Theorien, den Gedanken, die sich alle machen. "Und was lernen wir daraus?", fragt Heinrich P. "Nichts." Dann kommen ihm wieder die Tränen.

© SZ vom 26.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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