Gutachten über Straftäter:Eine Prognose mit Langzeitwirkung

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Bei der Entscheidung, ob ein Straftäter auch nach der Haft bis zum Tod eingesperrt werden darf, lassen sich Gerichte bislang von Gutachtern helfen. Die erstellen eine Prognose zum Rückfallrisiko des Gefangenen. Doch die Gutachten sind oft nicht zuverlässig.

Von Helmut Kerscher

(SZ vom 22. Oktober 2003) So wenig Juristerei gab es selten beim Bundesverfassungsgericht wie am ersten Verhandlungstag über die Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter. Statt komplizierter Erörterungen hörte sich der Zweite Senat unter Vorsitz von Winfried Hassemer vor allem Erfahrungsberichte an.

Das Gericht stellte Fragen über die Vorhersagbarkeit von Rückfällen sowie über mögliche Verbesserungen in der Praxis. Sollte man die bundesweit derzeit rund 300 Sicherungsverwahrten in eigenen Anstalten unterbringen? Wie könnte man die Zuverlässigkeit von Prognosen über die Gefährlichkeit erhöhen? Gibt es "klügere Alternativen" (Hassemer) zur 1933 eingeführten Sicherungsverwahrung?

Irgendwann in nächster Zeit wird das Gericht seine Schlüsse in Urteilsform bekannt geben. In drei Verfassungsbeschwerden von Gefangenen muss es im Kern zwei Fragen beantworten: Ist die im Jahr 1998 gestrichene Höchstgrenze von zehn Jahren bei erstmaliger Sicherungsverwahrung verfassungsgemäß?

Drei Verfassungsbeschwerden - zwei Fragen

Und ist die von einigen Ländern geschaffene "nachträgliche Sicherungsverwahrung" mit dem Grundgesetz vereinbar? Um Letztere geht es am heutigen Mittwoch, am Dienstag standen der Wegfall der Zehn-Jahres-Frist und ein davon Betroffener im Mittelpunkt.

Der heute 46-Jährige, der bei der Verhandlung nicht dabei war, wäre im Jahr 2000 aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden, hätte der Bund nicht zwischenzeitlich die Höchstgrenze gestrichen. Darin sah sein Anwalt Bernhard Schroer (Marburg) einen klaren Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und eine Zerstörung seiner Lebensplanung in der Mitte des Lebens. Ein normaler Mensch könne sich gar nicht vorstellen, was das für einen Gefangenen bedeute, so Schroer.

Der Mann hatte seit seinem 15. Lebensjahr nur wenige Monate in Freiheit verbracht, weil er immer schwerere Straftaten begangen hatte. Der als Berichterstatter zuständige Richter Rudolf Mellinghoff schilderte die "kriminelle Karriere" dieses Mannes, die bis zur versuchten Tötung einer Vollzugshelferin führte.

Nach Angaben der zuständigen Anstalt zeige er in den vergangenen Jahren "vermehrt impulsiv-aggressive" Verhaltensweisen und bekenne sich mittlerweile zur rechtsextremen Skinhead-Szene. Darf man einen solchen Mann auch dann hinter Gittern behalten, wenn er bei unveränderter Gesetzeslage längst entlassen worden wäre?

"Zum Schutz der Bevölkerung"

Das werfe unter anderem die Frage nach der Vereinbarkeit einer unbegrenzten Sicherungsverwahrung mit der Menschenwürde, dem Freiheitsgrundrecht und der Verhältnismäßigkeit auf, erläuterte Mellinghoff.

Staatssekretär Hansjörg Geiger vom Bundesjustizministerium verteidigte die noch von der CDU/CSU-FDP-Koalition betriebene Gesetzesänderung als verfassungsgemäß. Sie sei mit "hoher Sensibilität und Verantwortung" zum Schutz der Bevölkerung erfolgt.

Geiger wies darauf hin, dass mit dem Wegfall der Zehn-Jahres-Höchstgrenze keinesfalls ein Automatismus verbunden sei. Nach wie vor könnten Sicherungsverwahrte bei günstiger Prognose auch vorher entlassen werden. Dass dies in der Praxis auch häufig geschieht, legten die Angaben verschiedener Länderjustizministerien nahe.

Risikoreiche Prognosen

Was es mit den zugrunde liegenden Prognosen auf sich hat, versuchten die Psychiater Norbert Nedopil (München) und Andreas Marneros (Halle) zu erläutern. Einig waren sie sich darin, dass Prognosen in etwa 60 Prozent der Fälle mit besonderen Risiken behaftet seien. In den übrigen Fällen, bei denen sie zu unterschiedlichen Prozentangaben kamen, könne die Rückfallgefahr entweder ziemlich sicher bejaht oder verneint werden.

Für Aufsehen sorgte Marneros mit der Aussage, nach "meta-analytischen Untersuchungen" liege die Genauigkeit einer gutachterlichen Prognose "nur unbedeutend höher als der Zufall". Dies gelte aber nur dann, wenn sich die Gutachter ausschließlich auf die Exploration eines Probanden verließen, erläutert er. Mit Hilfe "persönlichkeitsdiagnostischer Instrumente" könne erheblich mehr Prognosesicherheit gewonnen werden.

Nur wenige Gutachter sind wirklich qualifiziert

Das wiederum führte ohne Umschweife zur Frage nach der Qualität der Gutachten und der Gutachter. Beide Experten beklagten die geringe Zahl wirklich qualifizierter und erfahrener Gutachter. Die Gerichte neigten dazu, sich auf schnelle und ihnen bekannte "Hausgutachter" zu verlassen oder problematische Gutachten aus den Anstalten heranzuziehen.

Nedopil beklagte zudem mangelndes empirisches Wissen über das Rückfallrisiko von älteren Strafgefangenen. Man wisse lediglich, dass Gewaltbereitschaft und Impulsivität etwa vom 50. Lebensjahr an nachließen. Auch in Kenntnis aller Risikofaktoren seien Rückfälle trotz positiver Prognosen nicht auszuschließen.

Gestörte, egozentrische Persönlichkeiten

Die Leiter der Justizvollzugsanstalten Freiburg, Schwalmstadt, Straubing und Werl formulierten in einem Punkt einen einheitlichen Eindruck: dass es sich bei den Sicherungsverwahrten häufig um gestörte, egozentrische Persönlichkeiten handle.

Uneinig reagierten sie auf die Forderung des Vollzugsexperten Ullenbruch, diese Personen in eigenen Anstalten unterzubringen, die von mehreren Ländern gemeinsam betrieben werden müssten. Eine solche "Massierung dissozialer Persönlichkeiten" sei explosiv, meinte etwa der Freiburger Gefängnisdirektor Thomas Roesch.

Er könne sich solche besonderen Anstalten durchaus vorstellen, meinte dagegen sein Kollege aus Werl, aber für solche kleinen Einrichtungen brauche man sehr viel Personal. In seiner Anstalt gebe es schon jetzt ein eigenes Haus mit eigenem Personal für Sicherungsverwahrte, die gegenüber den Strafgefangenen einige Privilegien hätten.

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