Grünen-Parteitag:Vom Zeitgeist verlassen

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Die Grünen wurden gewählt, weil sie dem Lebensgefühl vieler Menschen entsprachen. Jetzt lebt das Lebensgefühl immer öfter wo anders. Daran sind die Grünen selbst nicht unschuldig. Sie gelten als beliebig und als ein wenig spießig. Mut wohnt anderswo.

Von Heribert Prantl

Es gibt einen Gast, den jede Partei bei ihrem Parteitag am liebsten hat. Dieser Gast hat keine Titel, er hat keinerlei offizielle Funktion. Er wird nicht eigens begrüßt, er hat nicht einmal einen Platz in der ersten Reihe. Er hat genau genommen gar keinen Sitzplatz - und trotzdem spürt man es sofort, wenn er da ist. Dann strotzt die Partei vor Selbstbewusstsein, dann weiß sie, wofür sie steht und wofür sie streitet. Dieser Gast heißt Zeitgeist. Die Grünen waren sich viele Jahre lang sicher, dass der kritisch-aufgeklärte Zeitgeist ihr Stammgast ist.

Diese Sicherheit ist verschwunden und die Grünen selbst sind daran nicht unschuldig. Das prägt den Parteitag in Berlin, und es hängt darüber eine Fülle von Selbstzweifeln: Wer sind wir? Was wollen wir? Es sind nicht allein die sinkenden Umfrageergebnisse, welche die Grünen irritieren; das gab es schon öfter. Es ist auch nicht nur der Machtverlust in Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün vor vier Wochen eine krachende Wahlniederlage erlitten hat; das gehört zum Auf und Ab in der Demokratie. Viele Delegierte plagt das Gefühl, dass da etwas Größeres in Gang sein könnte, etwas Historisches: dass sich der Zeitgeist abgewendet haben könnte - und sich bei der FDP des Christian Lindner wohler fühlt. Und die Grünen fragen sich, das ist das eigentliche Thema des Parteitags, ob das Wahlkampf-Spitzenduo, Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, mit daran schuld ist, weil es ihm an Leidenschaft, Mut und Klarheit fehlt.

Die Grünen spüren eine neue Konkurrenz - sie heißt FDP; bei der Wahl in NRW, lag diese um Längen vor Grün. Christian Lindner spricht viel vom "Lebensgefühl"; er versucht, das Image der FDP als einer Klientel-Partei für Apotheker und Hoteliers abzuschütteln; er hat die FDP aufgehübscht. Wie wollen die Grünen dagegenhalten? Die Früchte der Jahre, in denen man als Anti- und Öko-Partei geackert und gesät hat, sind geerntet. Ist die Zukunft der Grünen nun die einer wirtschaftsgrünen Kretschmann-Partei? Wo blieben dann die Linken, die Ökos und die Bürgerrechtler, deren furiose Streitlust die Grünen einst stark gemacht hat? Ohne die jahrzehntelange grüne Radikalität beim Atomausstieg gäbe es in Stuttgart keine Regierung Kretschmann. Oder liegt die Zukunft der Grünen links, dort also, wo die jüngst sehr erfolgreichen niederländischen Groenlinken mit ihrem in Berlin bejubelten Parteichef Jesse Klaver stehen? Das baden-württembergische Modell also oder das holländische? Oder beide Modelle im edlen Dauerwettstreit? Robert Habeck, der Grüne aus Schleswig-Holstein, gilt vielen als einer, der die beiden Richtungen einen könnte. Bei ihm zu Hause in Kiel wurde aber soeben eine Jamaika-Koalition ausgehandelt, also ein Bündnis der Grünen mit CDU und FDP, das vielen Basis-Grünen suspekt ist. Sie fragen sich, ob das jetzt ein Zeichen für die Bundestagswahl sein soll. Sie fürchten, dass ihr Spitzenduo Göring-Eckardt und Özdemir auf Teufel komm raus eine solche Jamaika-Koalition auch im Bund anpeilt, um an Regierungsposten zu kommen - und dass für dieses Ziel harte grüne Positionen weich gemacht werden. Ist das Zehnpunkteprogramm, das vom Spitzenduo vorgelegt wurde, deswegen so soft und smart ausgefallen? Es gibt fast zweitausend Änderungsanträge, die das Programm schärfen wollen - sie verlangen grüne Unverwechselbarkeit und grüne Festigkeit.

Es beginnt nun eine spannende Konkurrenz: Wie viel Platz gibt es in der Bundesrepublik für welche Liberalität - wie viel für die gelbe Liberalität der FDP und wie viel für die Liberalität der Grünen?

© SZ vom 17.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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