Großbritannien und die EU:"Von Haus aus nicht begeistert von Europa"

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Der langjährige Chef der Labour-Gruppe im EU-Parlament, Gary Titley, redet sich den Frust über die Europa-Ignoranz von Premier Brown von der Seele.

London

Gary Titley, 59, gehört zu der schwindenden Zahl von überzeugten Pro-Europäern in Großbritannien. Das hat nicht zuletzt private Gründe, schließlich ist der EU-Parlamentarier aus dem nordenglischen Bolton mit einer Spanierin verheiratet. Als junger Mann hat er die Streitereien über Europa innerhalb seiner Labour-Partei miterlebt, später die langsame Hinwendung der politischen Linken und der Gewerkschaften zu Brüssel.

Gary Titley lässt kein gutes Haar an der britischen EU-Politik. (Foto: Foto: oH)

Unter Tony Blair sei 1997 "die pro-europäischste Regierung der vergangenen Jahrzehnte" an die Macht gekommen, glaubt der langjährige Vorsitzende der Labour-Gruppe im EU-Parlament - und attestiert Blair und dessen Nachfolger Gordon Brown erhebliches Versagen: Nach zwölf Jahren Labour-Regierung in London "ist Europa bei uns unpopulärer als 1997".

Titley: "Wenn wir die Art der Debatte in Großbritannien nicht verändern, verlieren wir die Kontrolle über die europäische Agenda und müssen darum kämpfen, Großbritannien in der EU zu halten."

In einer Rede vor dem renommierten Thinktank Fabian Society am Donnerstagabend analysierte Titley die Probleme. Da sei in erster Linie die britische Haltung zum wichtigsten europäischen Projekt, der Währungsunion: "Die Regierung wollte eine Diskussion über den Euro unterdrücken und hat damit jedes Gespräch über die EU erstickt" - was den EU-Feinden in Medien und Politik ein Vakuum eröffnete.

Den Hauptschuldigen kennt in London jedes Kind: Es ist der langjährige Finanzminister und heutige Premier Gordon Brown. Den Beitritt zur Währungsunion, den der instinktive Pro-Europäer Blair nach seinem triumphalen Wahlsieg 1997 gern durchgesetzt hätte, vereitelte Brown, indem er vermeintlich relevante wirtschaftliche Benchmarks erfand. Zu den Sitzungen der Finanzminister schickte er meist seine Staatssekretäre.

Auch im Kreis der Regierungschefs macht der Schotte, der außer Englisch keine Sprache spricht, selten bella figura. "Er mag Europa nicht. Er versteht es auch nicht", seufzt einer, der Brown gut kennt. Im Gespräch mit sueddeutsche.de nimmt Titley seinen Parteichef nur lahm in Schutz: Brown sei "von Haus aus nicht begeistert von Europa" und spiegele damit die generell pragmatische Sichtweise der Briten wider.

Der gelernte Finanzpolitiker begreife den Brüsseler Club nur "als Mechanismus, mit dem sich globale Probleme lösen lassen", glaubt Titley. In Wahrheit aber müsse er sich einer Tatsache stellen, mit der sich jeder EU-Regierungschef konfrontiert sieht: "Die EU dominiert beinahe das ganze Regierungshandeln. Wer sich nicht konstruktiv beteiligt, verliert seinen Einfluss." Und von konstruktiver Beteiligung kann keine Rede sein.

Initiativen abgelehnt, die mit den eigenen Positionen übereinstimmten

Seit Gründung des Binnenmarktes vor mehr als 20 Jahren haben sich die Briten an keinem Projekt europäischer Integration mehr beteiligt. Weder das Abkommen von Schengen (Freizügigkeit der Bürger) noch der Vertrag von Prüm (Datenabgleich durch Polizei und Staatsanwaltschaft) tragen eine britische Unterschrift. Großbritannien, sagt Titley, sei "defensiv und misstrauisch" allem Europäischen gegenüber.

Jahrelang habe er im Londoner Regierungsviertel Whitehall Sitzungen durchlitten, in denen Beamte und die von ihnen beeinflussten Minister gegen Brüsseler Initiativen argumentierten, "obwohl die inhaltlich mit unseren Positionen übereinstimmten". Warum? "Weil wir dauernd Angst haben, da werde eine Falle errichtet."

Auf Regierungsebene gilt Europa bisher als Bewährungsposten für mehr oder weniger geeignete Staatssekretäre im Foreign Office; seit Labours Amtsantritt 1997 bekleideten neun Damen und Herren den einflusslosen Posten. Titley schwebt stattdessen ein Europa-Minister in der Regierungszentrale und mit Kabinettssitz vor, der eine neue Regierungshaltung gegenüber der EU entwickelt und koordiniert: "Wir müssen Europa als unverzichtbares Element im Kampf um die Zukunft unseres Landes wahrnehmen."

"London ist Reykjavik an der Themse"

Indirekt beklagt der langjährige Labour-Chef in Brüssel damit auch die Ignoranz vieler Spitzenleute seiner Partei gegenüber allem Europäischen. Außer dem früheren EU-Kommissar und jetzigen Wirtschaftsminister Peter Mandelson fallen Titley nur drei überzeugte Europäer in Browns Kabinett ein: Außenminister David Miliband, Verkehrsminister Geoff Hoon und Gesundheitsminister Alan Johnson - keine reiche Ausbeute bei immerhin 24 Kabinettsmitgliedern.

Naja, sagt Titley: Vize-Parteichefin Harriet Harman stehe "Europa mittlerweile viel positiver gegenüber". Die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise begreift Titley als Chance: Endlich stehe Großbritanniens Beitritt zum Euro-Raum wieder auf der Tagesordnung.

Seine Heimat gleiche dem nördlichen Nachbarn Island, den nur ein Notkredit des Internationalen Währungsfonds vor der Staatspleite bewahren konnte, glaubt etwa der Ökonom und Bestseller-Autor Will Hutton ("The World We're In"): "London ist Reykjavik an der Themse, da sieht die Mitgliedschaft im Euro plötzlich sehr attraktiv aus." Titley hält den Vergleich mit Island zwar für übertrieben, aber: "Wir sind der damaligen EWG nur beigetreten, weil das Land in der Krise steckte. Beim Euro wäre die Situation genauso."

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