Großbritannien:Eine Partei steht Kopf

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Jeremy Corbyn wird neuer Labour-Chef - zum Entsetzen des Establishments. Mehrere Schattenminister treten zurück, weil sie nicht mit dem radikal-linken Politiker zusammenarbeiten wollen.

Von Christian Zaschke, London

Zu den vielen Gratulanten, die Jeremy Corbyn am Samstag zu seiner Wahl zum neuen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei beglückwünschten, gehörte auch David Cameron. Der konservative Premierminister sprach kurz mit Corbyn am Telefon, dem Vernehmen nach war es ein freundlicher Austausch von Höflichkeiten. Wenig später veröffentlichte der Premier in den sozialen Medien diese Botschaft: "Die Labour-Partei ist nun eine Bedrohung unserer nationalen Sicherheit, unserer wirtschaftlichen Sicherheit und der Sicherheit unserer Familien." Am kommenden Mittwoch treffen Cameron und Corbyn in der wöchentlichen Fragestunde des Premiers im Parlament aufeinander, und nach dieser Eröffnung braucht es wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass es ein eher lebhafter Austausch wird.

Geschlossenheit? Das könnte schwierig werden. Corbyns Positionen sind vielen zu radikal

Dass Corbyn die Wahl gewinnen würde, war nach den Umfrage-Ergebnissen erwartet worden. Aber dass er so überzeugend gewann, kam dann doch überraschend. Knapp 60 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für den 66 Jahre alten Politiker, der seit 32 Jahren im Parlament sitzt und noch nie ein wichtiges Amt innehatte. Sein Sieg ist damit deutlicher als der von Tony Blair im Jahr 1994. Mitstimmen durften Parteimitglieder, Gewerkschafter und sogenannte registrierte Unterstützer, die gegen Zahlung von drei Pfund ins Wahlregister aufgenommen worden waren. Bei allen drei Gruppen erreichte Corbyn eine klare Mehrheit. "Ich habe ein überwältigendes Mandat für eine neue Demokratie in der Partei gewonnen", sagte er.

Die Deutlichkeit des Sieges ist auch ein Signal an jenen Teil des Partei-Establishments, der Corbyn als Parteichef schnell wieder loswerden will. Nach Informationen des Daily Telegraph hatten moderate Abgeordnete bereits informelle Gespräche darüber geführt, wie sie Corbyn rasch stürzen könnten. Die breite Unterstützung der Basis für den Vorsitzenden dürfte dieses Vorhaben deutlich erschweren.

In seiner ersten Rede rief der neue Chef die Partei zur Einheit auf, doch genau diese sehen viele politische Beobachter gefährdet. Corbyn gehört zum ganz linken Labour-Flügel. Anders als an der Basis hat er in der parlamentarischen Fraktion kaum Unterstützer, höchstens 20 von 258 Labour-Abgeordneten wollten ihn als Chef. Die 35 Nominierungen, die nötig waren, um an der Wahl überhaupt teilnehmen zu dürfen, bekam er erst in buchstäblich letzter Minute zusammen - und das auch nur, weil einige Abgeordnete, die Corbyn ausdrücklich nicht als Vorsitzenden wollten, ihn nur nominiert haben, um "die Debatte zu beleben". Nun erscheint es durchaus möglich, dass Labour zur nächsten Parlamentswahl im Jahr 2020 mit einem dann 70 Jahre alten Spitzenkandidaten antritt.

Mehrere Schatten-Minister sind am Wochenende bereits zurückgetreten. Von den unterlegenen Kandidaten schlossen Liz Kendall und Yvette Cooper eine enge Zusammenarbeit mit Corbyn aus. Schatten-Gesundheitsminister Andy Burnham, der im Wahlkampf viel Spott für seinen Opportunismus einstecken musste, überlegt noch. Weitere prominente Politiker in der Partei haben angekündigt, keine wichtigen Posten im neuen Schattenkabinett übernehmen zu wollen, das Corbyn nun rasch zusammenstellen wird und das zur Hälfte aus Frauen bestehen soll. Auch Ed Miliband, der die Partei als Vorsitzender bis zu der klaren Wahlniederlage im Mai geführt hatte und anschließend zurückgetreten war, sagte, er werde im Parlament künftig als Hinterbänkler wirken. Er warb aber dafür, dass Labour sich geschlossen hinter Corbyn stelle.

Das könnte bisweilen schwierig werden, da viele von dessen Positionen in der Partei nicht mehrheitsfähig sind. Er will zum Beispiel Teile des Transport- und Energiewesens renationalisieren sowie die Sparpolitik der Tories und das Atomwaffenprogramm beenden. Corbyn ist gegen militärischen Interventionismus und stellt die britische Mitgliedschaft in der Nato zumindest infrage.

In diesem Punkt hat ihm sein neuer Stellvertreter Tom Watson, der ebenfalls am Samstag gewählt wurde, am Sonntag bereits offen widersprochen. Er kündigte zudem eine Debatte bezüglich der Haltung Labours zu Atomwaffen an. "Ich muss ja offen sagen, wo ich in welchen Fragen stehe", sagte Watson.

Diese Haltung dürfte Corbyn im Grundsatz sogar gefallen. Er hat sich auch dadurch einen Namen gemacht, dass er im Parlament grundsätzlich so abstimmt, wie er es für richtig hält, ganz gleich, was die offizielle Parteilinie ist. Damit hat er über die Jahrzehnte mehrere Partei- und Fraktionschefs zur Weißglut getrieben. Es ist eine leise Ironie der Geschichte, dass eine seiner wichtigsten Aufgaben als Vorsitzender sein wird, Geschlossenheit herzustellen.

Corbyns erste Amtshandlung als neuer Labour-Boss bestand darin, dass er sich einer Demonstration im Londoner Zentrum anschloss, auf der mehr britische Solidarität mit Flüchtlingen gefordert wurde. Die Demonstranten feierten ihn wie einen Rockstar. Er hielt eine Rede, die begeistert aufgenommen wurde, und anschließend brachte der Folksänger Billy Bragg die Sozialisten-Hymne "The Red Flag" zu Gehör. Corbyn sang textsicher mit.

© SZ vom 14.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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