Grimma nach der Flut:Eine Stadt schlägt die Schlammschlacht

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Mit aller Kraft suchen die Menschen nach einem Weg zum Neuanfang -doch bei manchen scheint mit dem Wasser auch die Hoffnung versickert zu sein

[KORRES]Von Marcus Jauer

(SZ vom 19.08.2002) Grimma, 18. August- Das Wasser ist weg. Die Mulde hat sich wieder in das Bett gelegt, aus dem sie für zwei Tage und zwei Nächte aufgestanden war. Ein kleiner Fluss, der auf seinem Weg vom Süden in den Norden einen Bogen um eine Stadt machen muss. Und der, als er groß und mächtig war, dies nicht mehr tun wollte. Er floss einfach geradeaus. Mitten durch Grimma.

"Keine Details", sagt Matthias Berger, "nur Strategiefragen". Es ist Samstagmorgen. Berger steht im Frühstücksraum des Bauhofes. Er ist Bürgermeister, 34 Jahre alt. Am Tisch vor ihm sitzen ein Dutzend Männer und Frauen, die alle älter sind als er und bislang in der Meldestelle, im Bauamt oder im Rechnungswesen der Stadt gearbeitet haben.

Jetzt sind sie sein Krisenstab. Einen nach dem anderen fragt er ab. Ist die Liste mit den einsturzgefährdeten Häusern fertig? Und die mit den Werkzeugen? Gehen die Bautrupps wieder 'raus? Und die Elektrotrupps? Wissen die Leute, dass sie keine Lebensmittel mehr spenden sollen?

Antwortet einer länger als ein paar Sätze, unterbricht ihn Berger sofort. Keine Details. Es sind hunderte Freiwillige in der Stadt unterwegs, vielleicht tausende. Berger will einen Sammelpunkt und eine Werkzeugbörse, damit alle eine Schaufel bekommen und jemanden, der ihnen sagt, wo sie anfangen sollen. "Heute Abend ist Grimma wieder sauber", sagt Berger, als er geht.

Gefriergetrocknete Akten

Grimma, 18.500 Einwohner, im Osten Leipzigs. Die Perle des Muldentals, so steht es am Ortseingang. Am Dienstag-morgen wälzte sich der Fluss durch die historische Altstadt, riss Autos und Häuserwände mit sich, schloss 50 Menschen für eine Nacht in der Kirche ein. Grimma war als eine der ersten Städte überflutet und als eine der ersten wieder trocken. Nun muss es als eine der ersten wieder aufgebaut werden.

"Es geht nur mit Härte", sagt Matthi-as Berger auf dem Weg zum Markt, wo er den Sammelpunkt aufbauen lassen hat. "Härte, Entscheiden und nicht wackeln". Als das Wasser kam, hat er Menschen aus ihren Häusern gerettet, in die Schaufel eines Radladers, auf dessen Dach er saß, den er lotste und mit dem er später umkippte auf der eingebrochenen Straße. Als die Reporter kamen, hat er gesagt, die Bundeswehr solle endlich Panzer schicken, sonst gehe seine Stadt unter.

Dann hat er seinen eigenen Krisenstab aufgemacht, weil ihm alles zu lange dauerte. Hat Leute in Neubauten unterbringen lassen, die leer standen, und Ausgangssperre verhängt, als die Nacht kam, damit nicht geplündert wird.

Matthias Berger ist erst seit einem Jahr Bürgermeister, eigentlich ist er Rechtsanwalt. Er sagt, er sei froh, dass seine Stadt sich selbst organisiert.

Der Krisenstab des Landkreises, den es auch gibt, hat ihm mit Disziplinarstrafen gedroht. Er soll jeden Tag vier Lageberichte abgeben, aber dazu fehlt ihm die Zeit.

Die Altstadt von Grimma ist 500 Meter und 300 Meter breit, vor Jahren gab es einen kleinen Streit mit dem großen Leipzig, wer die größere Altstadt hat. Viele Häuser sind mehr als 400 Jahre alt. Kurz nach der Wende wurde die Stadt in ein Denkmalschutzprogramm aufgenommen, aus dem sie 70 Millionen Mark bekam. Das, was man den Aufbau Ost nennt, war in Grimma abgeschlossen.

Durch das Stadthaus, an dessen Hintereingang Frauen nasse Akten verladen, damit sie gefriergetrocknet werden können, und aus dessen Erdgeschoss er Teppich, Stühle und Tische hinauswerfen lassen hat, betritt Matthias Berger den Markt.

Vor einem roten Zelt stehen Freiwillige in einer Schlange. Der Sammelpunkt. Hier gibt es Werkzeug, Essen und einen Stadtplan, weil viele Helfer gar nicht aus Grimma sind. "Als das Wasser noch stand, war ich depressiv", sagt Berger, "aber schauen Sie sich das an!" Dann geht er los. "Das wird schon", spricht er vor sich hin. "Das wird."

In der Langen Straße, die einst die Einkaufsstraße Grimmas war, reihen sich 50 Geschäfte aneinander. Sie liegen alle im Erdgeschoß, und darum liegt nun das, was es in ihnen zu kaufen gab, in braunen Haufen vor den Eingängen. Fernseher, Computer, Bücher, Kleider, Blumen. Kräne greifen in den Müll und werfen ihn in Container, die nach draußen gefahren werden, vor die Stadt, wo inzwischen ein Berg entstanden ist.

Die Fragen der Banker

Dort sind jetzt auch die Vitrinen von Jörg Schneegaß. Den Teppich, sagt er, will er retten. Er schrubbt schon zwei Tage, und nun, wo die 20 Zentimeter Schlamm runter sind, kann man wenigstens wieder sehen, dass er mal rot war.

Jörg Schneegaß ist 35 Jahre alt und Uhrmacher, sein Laden ist das "Schmuckkästchen". Er hat es vor fünf Jahren übernommen und mit Kredit neu eingerichtet. Die Vitrinen waren gebraucht gekauft, die Verwandten hatten bei der Holzverkleidung für die Wände geholfen.

Er war sein eigener Herr. Als er gestern bei seiner Bank anrief, ob sie ihm den Kredit stunden könne, wurde nur gefragt, welche Sicherheiten er denn habe. "Meine Ware", hat er gesagt.

Einen Meter sechzig stand das Wasser in seinem Laden, die Uhren, die jetzt noch an der welligen Verkleidung hän-gen, oben, nah an der Decke, sind trocken. Die anderen hat er nach Hause geholt, einige sind wasserdicht-und den Schmuck, die Ringe und die Ketten, zumindest die, die er noch gefunden hat, wird er wieder sauber bekommen.

"Ich werde weiter machen", sagt Jörg Schneegaß. Aber das interessierte die Bank nicht. Sie wollte nur wissen, ob er noch andere Sicherheiten habe, Eigentum vielleicht. Aber Jörg Schneegaß ist Mieter. Also keine Sicherheiten.

Auf der anderen Straßenseite steht Heike Seidel in ihrem Laden, in dem sie die Schuhe verkaufen wollte, die nun zum einem Haufen aufgetürmt vor ihrem Schaufenster liegen. Das Wasser ist von hinten gekommen, durch ein Fenster im Büro, und hat die Schuhe nach vorn auf die Straße hinausgespült. Es war schon die Winterkollektion. 100.000 Euro. "Man wacht auf und ist pleite", sagt Heike Seidel, die mit ihrem Laden seit 1990 durchgehalten hat.

Schuh-Seidel, das war ein Name in Grimma, sagt sie. Die Kunden waren treu, auch im letzten Jahr, als die Lange Straße aufgerissen und das Pflaster verlegt wurde, das die Menschen vor ihrer Tür gerade wieder herausreißen, weil das Wasser die Steine locker gespült hat. "Grimma war gerade fertig", sagt Heike Seidel.

Als Bundeskanzler Schröder vor Tagen in der Stadt war, um die Schäden zu besehen, da ist er auch in ihren Laden gekommen. "Bauen Sie die Straßen und die Brücken wieder auf", hat sie ihm gesagt. Dafür soll das Geld genommen werden.

Das bisschen Entschädigung rettet sie sowieso nicht. Der Kanzler hat genickt. Natürlich wird der Staat die Straßen richten, die eingebrochen sind, und die Brücke über Mulde auch. Der Staat kann nicht sagen, er gibt auf. Heike Seidel könnte das. Sie muss nicht wieder aufmachen und die anderen 50 Händler auch nicht.

Vielleicht entscheiden sie das erst, wenn ihre Läden sauber sind und sie merken, dass das allein noch nicht reicht. Die Frage wäre dann eben nur, für wen die neuen Straßen sein sollen.

Gegen Mittag sind 1500 Freiwillige auf die Altstadt verteilt. Sie ziehen den Schlamm von den Straßen, bevor er trocken und hart wird. Sie pumpen Keller aus, wischen Wohnungen sauber oder stehen vor Suppenküchen Schlange. Elektrotrupps prüfen die Anschlüsse und geben sie wieder ans Netz. Bautrupps begutachten Gebäude, deren Lehmwände wegzurutschen drohen. Zwanzig Häuser müssen wohl abgerissen werden.

Frau Kießigs Kaninchen

"Herr Kießig", sagt der Mann vom Bauamt, "sie dürfen nicht in ihr Haus, die Decke kann einstürzen." Konrad Kießig nickt. Vor 71 Jahren wurde er in dem Haus geboren, aus dessen erster Etage man ihn am Dienstagmorgen in ein Schlauchboot zog. Ihn und seine Frau Käthe, die auf einer Holzkiste neben ihm sitzt. Vor ein paar Minuten sind sie zum ersten Mal wieder in ihrem Haus gewesen.

Im Wohnzimmer, in der Küche, in der Speisekammer-alles ist braun und aufgeweicht. "Die Kaninchen sind ertrunken, Frau Kießig", sagt der Mann vom Bauamt. "Sie sind nicht aus dem Käfig gekommen", sagt er, "gehen Sie lieber nicht hin." Käthe Kießig weint.

Im Plastikbeutel, den sie in den Händen hält, sind ein paar schlammige Geldscheine und ein paar Fotos. Als der Mann vom Bauamt weg ist, geht sie noch einmal ins Wohnzimmer, um aus dem großen Schrank eine Strickjacke zu holen, ihr Mann nimmt die Uhr, die mal an der Wand hing und die jetzt zwischen Fernseher und Radio auf dem Boden liegt.

Es gibt im Wohnzimmer der Kießigs nicht viel, das sie sich nach der Wende neu gekauft haben. Es ist fast alles alt. Das heißt aber auch: sie können es nicht wieder kaufen. Als sie aus dem Haus kommen, wartet ein Ehepaar auf sie. Der Mann ist der Versicherungsmakler der Kießigs. "Sie wohnen erst mal bei uns", sagt seine Frau.

Ihr Mann lädt die Uhr, die Strickjacke und den Plastikbeutel in sein Auto. "Das wird wohl lange dauern, bis wir wieder zurück können", fragt Herr Kießig. "Naja", sagt die Frau. Dann kommen junge Männer mit Holzbalken, um die Wohnungsdecke abzustützen.

Auf seinem Weg durch die Stadt hat sich die Stimmung von Bürgermeister Matthias Berger weiter gebessert. Er hat neue Container organisiert, Hochdruckreiniger und Notstromaggregate. Er hat einem fähigen Mann aus dem Hochbauamt gesagt, er solle sich an das Konzept Wiederaufbau machen.

Er schätzt, dass es 25 Millionen Euro brauchen wird, um die Stadt wieder aufzubauen, sagt er. Und dass er weiß, dass die Hilfe von Bund und Land dafür nicht ausreicht. Während seine Bürger eine neue Gemeinsamkeit entdecken, droht die Stadt ein zweites Mal unterzugehen. Wenn Dresden und Bitterfeld aufräumen, wer wird dann noch von Grimma sprechen? "Grimma, die Perle des Muldentals wird leben", sagt Matthias Berger. Einerseits klingt es, als könne er es kaum erwarten. Andererseits ist es nur eine Hoffnung.

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