Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Die Leser von Martin Walser erinnern sich noch mit Bedauern an das Missgeschick vom 17. September 2012, das dem Schriftsteller während einer Zugreise von Innsbruck nach Friedrichshafen unterlaufen war. Walser befand sich auf der Rückfahrt von einer Lesung und nutzte die Zeit für Einträge in sein Tagebuch. Er hatte es eigens in rotes Leinen einbinden lassen, um dem Cahier die Majestät einer Mitteilungsinstitution zu geben. Aufwendig gestaltete Bücher lässt man überdies nicht so leicht irgendwo liegen - aber genau das war Walser seinerzeit passiert. Er hatte sein Tagebuch - es diente ihm gleichermaßen als Pulsmesser wie als Erinnerungsspeicher seines langen, literarisch ungeheuer fruchtbaren Lebens -, also, Walser hat das Ding im Zug liegen lassen. Der Kummer über den Verlust der Aufzeichnungen veranlasste den Romancier, 3000 Euro Belohnungsgeld auszusetzen. Das Geld wollte er dem ehrlichen Finder, der ehrlichen Finderin gegen die Herausgabe des Verlorenen auszahlen. Ist es eigentlich inzwischen wieder bei Walser angekommen? Walser hat der lesenden Welt bislang kein Wort der Beruhigung zukommen lassen und lässt sie damit in Unglauben und Unverständnis zurück, denn bitte: Wer ist so herz- und schamlos, ein gefundenes fremdes Tagebuch einfach zu behalten?

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