Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Zu den eigentümlichsten Gipfeln menschlicher Irrlichterei gehört zweifellos die Augenhöhe. Wer hat sie aufgebaut dort oben, möchte man mit Eichendorff fragen. Und dann will man natürlich auch wissen, ob man mit der Seilbahn dort hochkommt oder ob es einen Wanderweg gibt. Kleiner Scherz. Aber im Ernst: Schwer zu sagen, wann es angefangen hat, dass immer mehr Leute sagen, sie könnten mit anderen Leuten nur Umgang pflegen, sofern dieser Umgang auf Augenhöhe stattfindet. Wenn man durch den Berliner Irrsinns-Stadtteil Prenzlauer Berg spaziert, begegnet einem sehr bald ein Vater, der sich vor seinen zweijährigen Sohn hinkniet, um diesem auf Augenhöhe vorzuschlagen, den Spielplatz jetzt bitte bald zu verlassen und mit ihm zur Mama zu gehen, die schon die Betthupferl-Quinoa zubereitet hat. Die Augenhöhe ist die Messlatte der hierarchiefreien Gesellschaft geworden. Egal wie klein oder bescheuert der andere ist, man muss ihm auf Augenhöhe begegnen, da gibt es keine Kompromisse. Die Türkei will EU-Mitglied auf Augenhöhe werden, Honda könnte 2017 auf Augenhöhe mit Mercedes sein und kürzlich hat Kardinal Reinhard Marx gesagt, sogar Gott gewähre seine Barmherzigkeit nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Wie soll man denn noch zu jemandem aufschauen können, wenn selbst der liebe Gott kein Oben und Unten mehr kennt und mit uns redet als seien wir seine Kumpels?

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