Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Es ist schön, endlich mal wieder etwas von Charlotte Roche zu hören. Für Menschen, die, wie man gerne sagt, gerade auf dem Schlauch stehen: Charlotte Roche ist eine charmante Schriftstellerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass Sex einen Vorgang darstellt, der in einzelne Sequenzen gegliedert ist. Im Allgemeinen gilt die angenehme Ausgestaltung dieses Vorgangs als alleinige Sache der Teilnehmenden. Charlotte Roche aber hat mit dieser überkommenen Regel gebrochen und bietet in ihren literarischen Arbeiten nicht nur detailgetreue Schilderungen sexueller Vorgänge an, sondern sie ordnet diese auch gesellschaftlich ein. Exakt diese Mischung hat Charlotte Roche in die erste Reihe der Sexszenen-Beschreiberinnen geschossen. Wobei der Standort "erste Reihe" gleich wieder kassiert werden muss - es gibt bei den Sexszenen-Beschreiberinnen überhaupt keine erste Reihe, denn Charlotte Roche kann ja wohl alleine kaum eine Reihe bilden. Man darf also getrost sagen: Charlotte Roche gilt als die beste Sexszenen-Beschreiberin Deutschlands, weil die Schilderung von Sexszenen ihre Kernkompetenz ist. Lustigerweise hat Charlotte Roche genau das jetzt auf der Frankfurter Buchmesse gesagt: "Das Schreiben von Sexszenen ist meine Kernkompetenz." Sonst wird dieses Wort ja nur von talentlosen Flitzpiepen in der Finanzbranche verwendet. Und dort klingt es öde und bräsig. Bei Charlotte Roche dagegen klingt es lustig, weil Sexszenen und Kernkompetenz auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, aber egal. Wichtig ist, dass Charlotte Roche den vielen anderen Autoren, die auch über Sex schreiben müssen, es aber nicht so gut können wie sie, ihre Hilfe anbietet. Ob sie wohl schon alle angerufen haben, der Schlink, der Walser, die Jelinek, der Haas, die Zeh, der Biller, der Trojanow, der Zaimoglu? Lässt Suhrkamp künftig in den Romanen von Isabel Allende alle dreißig Seiten ein paar Stellen frei, in welche Charlotte Roche dann ihre Kernkompetenz pflanzen kann? Ach, wäre das nicht überhaupt ganz ausgezeichnet, wenn künftig kein einziger Roman in Deutschland mehr erscheinen könnte, ohne von Charlotte Roche hergestellte und zertifizierte Sexszenen zu enthalten? Gut wäre es für die gebildete Welt, die statt einer ohnehin zum Scheitern geborenen Sexszene im Roman die geschickte Wendung "und als danach der Morgen anbrach" vorfand; gut wäre es allemal für die Freunde der gehobenen erotischen Literatur, die bis dahin auf Benoîte Groult angewiesen waren, bei der es heißt: "Wir fühlten uns außerhalb unserer Körper, etwas oberhalb vielmehr, und schwebten irgendwie, Seele an Seele." Außerhalb? Schwebten? Irgendwie? Anders gefragt: Könnte Charlotte Roche nicht auch alle schon geschriebenen Sexszenen umschreiben? Das wäre so schön.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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