Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Vor ein paar Jahren ging es wie ein Rausch durchs Land, da bekannten sich die Deutschen plötzlich und fast trotzig zur Schönheit ihrer Sprache, und weil sie schon mal in Fahrt waren, wollten sie auch mit ihren Lieblings- und Herzenswörtern nicht länger hinterm Berg halten. Die Ernte dieser Wettbewerbe war reich, die damit befassten Organisationen fuhren die liebsten Wörter fuderweise in die Scheuer: Abendbrot und Abendrot, Dingsbums und Donnerbalken, Halsabschneider und Hausmannskost und so fort bis zu Zoff und Zugehörigkeitsgefühl. In zwiespältiger Erinnerung ist die Ausscheidung des Deutschen Sprachrats von 2004 geblieben, weil unter den Siegern das doch ziemlich seelenlose Wort Rhabarbermarmelade war und weil der Hauptsieger, die Habseligkeiten, irrtümlicherweise mit der Seligkeit in Verbindung gebracht worden war statt mit dem Habsal, einem längst versunkenen, zwischen Labsal und Trübsal geisterhaft schwankenden Wort, das bei der Deutung auch nicht weiterhilft.

Keine Nennung gab es für das Wort Winterschlussverkauf. Das war insofern höchst seltsam, als der Winterschlussverkauf als solcher im selben Jahr durch das neue Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb abgeschafft worden war und die Deutschen - siehe den oben erwähnten Donnerbalken - doch ein Faible für Abgeschafftes und Dahingegangenes haben. Wirkt es da nicht wie ein verspäteter Ritterschlag, wenn der Modeschöpfer Jean Paul Gaultier, nach seinen Deutschkenntnissen befragt, "Winterschlussverkauf" sagt? Wir wissen nicht, wie es um sein Deutsch bestellt ist, wahrscheinlich hätte er auch "Kirschkuchen" oder "Mindesthaltbarkeitsdatum" sagen können, aber wenn sich ein Mann wie er für "Winterschlussverkauf" entscheidet, soll das sicherlich mehr sein als ein Aperçu zu den Usancen des Einzelhandels. Gaultier ist Künstler, könnte somit ein wacheres Ohr als wir dafür haben, dass aus Wörtern Tiefsinn und Trauer rinnt, und zwar, Hofmannsthal zufolge, "wie schwerer Honig aus den hohlen Waben". Beim Winterschlussverkauf ist das nur schwer zu verifizieren, aber schließlich dauert es auch beim Vergissmeinnicht, einem anerkannten Zauberwort, eine ganze Weile, ehe die Welt zu singen anfängt.

Es ist nicht zu überhören, dass der Winterschlussverkauf etwas von einem Zungenbrecher hat, vergleichbar dem tschechischen "Strč prst skrz krk", nur weniger vertrackt. Losungen dieser Art hatten einst, über den Geschicklichkeitstest hinaus, den Sinn, Fremde kenntlich zu machen. In der Bibel wird berichtet, dass die Gileaditer den Jordan besetzt hielten und die Ephraimiter nur dann passieren ließen, wenn diese "Schibbolet" sagen konnten. Wer "Sibbolet" sagte, wurde getötet, und das waren immerhin 42 000 Mann. Mit "Winterschlussverkauf" wär's vielleicht glimpflicher ausgegangen.

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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