Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Die Menschen im freien Teil der Welt haben viel Freizeit, die sie nutzen, um die Dinge des Lebens eingehender zu betrachten. Bei den Dingen des Lebens kann es sich beispielsweise um eine Scheibe Toast handeln, um eine Kuh auf der Weide, um eine Wolke, die am Himmel steht. Während der Mensch also die Dinge und Wesen anschaut, fällt ihm auf, dass deren Beliebigkeit ersetzt wird durch Sinn und Doppelsinn. Auf dem breiten Rücken eines simpel gebauten Nutztiers erkennen die Menschen unter all den Fellflecken auf einmal: Afrika. Und darüber die Wolke, sie scheint ein Gesicht zu haben, das als lächelnd, mitunter sogar herausfordernd grinsend wahrgenommen wird. Den Menschen, wenn sie schauen, entgeht kein Detail. Sie entnehmen ihrem Toaster eine frisch geröstete Scheibe, darauf zu erkennen ist zweifellos das Gesicht der Jungfrau Maria. Dann stellen sie die Toastscheibe bei Ebay ein und kriegen viele Tausend Dollar dafür, oder die Kuh, die den Schatten eines Kontinents mit sich herumschleppt, wird in den sozialen Netzwerken bestaunt und besprochen.

Wissenschaftler aus Toronto haben sich diesem Phänomen vor Jahren gewidmet. "Seeing Jesus in toast" heißt ihre Studie, das klingt vordergründig wie eine Textzeile aus einem Lied der etwas schräg eingehängten isländischen Sängerin Björk, beschreibt aber ein Phänomen, das als Pareidolie bekannt ist. Die Forscher zeigten zwanzig Männern Toastscheiben und scannten ihr Gehirn, sie interpretierten den Dialog der Hirnhälften und fanden unter anderem heraus, dass das Gesichtersehen Grundlage für das Miteinander ist, das Muster in der Unordnung zu erkennen schafft Vertrauen. Die Forscher wurden 2014 in der Kategorie Neurowissenschaften mit dem seinerseits etwas schräg eingehängten Ig-Nobelpreis ausgezeichnet, in einer weiteren Sparte gewann eine Gruppe, die sich die Frage gestellt hatte: Wie reagieren Rentiere, wenn sie Menschen sehen, die sich als Eisbären verkleiden?

In Bamako/Mali ist jetzt an einer Toilettenwand der Familie Traoré ein ausdeutbarer Fleck entdeckt worden, der ständig seine Form ändert - das hat er mit den Wolken gemein. Bemerkenswert genug, dass der Fleck zeitweilig wie ein betender Mann ausgesehen haben soll. Der Fleck zieht Politiker, Geistliche und Pilger mit ihren Smartphones an, die die Erscheinung für ein Wunder halten oder wenigstens für ein Zeichen des Propheten. Auf den von den Agenturen mitgelieferten Fotos kann man den Fleck nur verwaschen erkennen, er könnte auch eine Rakete sein. Oder ein auf der Rückenflosse stehender Fisch, was ja auch schon ein Wunder wäre. Aus der Distanz betrachtet, mögen einem die Irritation und Hysterie der Gläubigen von Bamako also eigenartig vorkommen, sie ist aber nur die Variation der Bewegtheit aller Menschen und Rentiere, die mit wachem Blick durchs Leben gehen.

© SZ vom 03.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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