Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Der Fluss der Zeit fließt und fließt, und wenn wir uns nicht mit ein paar eingrenzenden Termini behülfen, wüssten wir nie, was es gerade geschlagen hat. An den Rändern der für uns vorstellbaren Zeit steht weit hinten der von "Olims Zeiten" her bekannte Olim, weit vorne der heilige Nimmerlein, dem der Sankt-Nimmerleins-Tag anvertraut ist. Dazwischen gibt es diverse Epochen, von denen eine den Namen "Seit Beginn der Wetteraufzeichnungen" trägt. Das hört sich präzise an, überlässt es aber der Fantasie, sich als ersten Wetteraufzeichner Plinius den Älteren, einen mittelalterlichen Benediktiner oder Jörg Kachelmann vorzustellen. Es hat sich eingebürgert, den Beginn der Wetteraufzeichnungen ins Jahr 1881 zu legen. Unabhängig davon, was es mit diesem Datum auf sich hat, entfaltet die "1881" einen fast magischen Zauber, und das nicht nur, weil sie ein Palindrom wie "Oh Cello voll Echo" ist. Sie suggeriert, dass es vorher kein nennenswertes Wetter gegeben hat, schon gar keinen seriösen Hitzerekord, und dass auf einen neuen Hitzerekord eineindrittel Jahrhunderte herabschauen.

Genau das tun sie jetzt, und sie schauen herab auf jene 40,3 Grad, mit denen die mainfränkische Stadt Kitzingen alle Hitzerekorde seit 1881 einstellte - eine Düpierung nebenbei der rheinland-pfälzischen Stadt Bad Dürkheim, die mit 39,2 Grad die Hitzelatte so hoch gelegt hatte, dass ihr der Saisonsieg fast sicher zu sein schien - der Saisonsieg wohlgemerkt, denn in anderen Jahren waren die 39,2 Grad sehr wohl bereits geknackt worden, etwa in Amberg am 17. August 1892 mit 39,8 Grad oder in Gärmersdorf am 27. Juli 1983 mit 40,2 Grad, wobei Amberg und Gärmersdorf so nah beieinander liegen, dass die Frage erlaubt ist, ob da nicht ein Kartell am Werk war. Wie immer sich das verhält, mit Kitzingen hat die neuntägige Hitze, die dem Hitzerekord vorangegangen war, endlich den Sinn bekommen, den viele in ihr nicht sehen konnten. Neun Tage: War das nicht wie eine Novene, mit der Katholiken sich auf ihre Hochfeste vorbereiten?

Die Feier der Kitzinger 40,3 Grad sollte mit einer anderen, vielleicht nicht so grandiosen Feier verbunden werden, nämlich mit der für das Sommermonster 2015. In den Augen der meisten Deutschen gelten Sommer, die mit keinem marodierenden Ungeheuer aufwarten können, als misslungen oder jedenfalls zweitklassig. Um diesem Frust zu begegnen, setzt das Bundesgesundheitsministerium Anfang Juli jeweils ein unterhaltsames Tier aus: die Kuh Yvonne, die Schnappschildkröte Lotti, den Alligator Sammy, genannt "Die Bestie vom Baggersee", und wie sie sonst noch heißen. Dieses Mal ist es ein Känguru, das auf den vom Fernsehen her bekannten Namen "Skippy" hört und momentan das Sauerland unsicher macht. Es wird Zeit, dass sich jemand an möglichst flächendeckende Monsteraufzeichnungen macht.

© SZ vom 07.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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