Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Einer jungen Frau aus Wien, die noch die gute alte Gewohnheit des Rauchens pflegt, ist auf deutschem Boden soeben Fürchterliches widerfahren. Die Dame, die aus unerfindlichen Gründen in Franken unterwegs war, hatte für die erste Etappe ihres Nachhausewegs die S-Bahn in Anspruch genommen. Nun sind S-Bahnen im Gegensatz zu Autos oder Fahrrädern ein raucherfeindliches Verkehrsmittel, und wen zwischen zwei Haltestellen die Sucht überfällt, muss in der Regel mit Gewalt davon abgehalten werden, die Notbremse zu ziehen. Die Wienerin erwischte es kurz vor dem Bahnhof Erlangen-Bruck, wo sie dann ausstieg und sich eine Zigarette genehmigte. Und was tat der herzlose Lokführer? Fuhr einfach weiter - ohne die Raucherin, aber mit deren Reisegepäck. Geistesgegenwärtig, wie Nikotin-User nun mal sind, alarmierte sie die Polizei, die das Gepäck am Nürnberger Hauptbahnhof sicherstellte. Die Wienerin nahm die Sachen in Empfang, nicht ohne sich kritisch über die flotte Fahrweise deutscher Züge zu äußern.

Natürlich gibt es jetzt wieder ein paar Schlaumeier, die sagen, die Frau sei selbst schuld am Missgeschick. Warum macht sie es sich auf dem Bahnsteig mit einer Zigarette gemütlich, wo doch jeder weiß, dass die Bahn wegen der jüngsten Streiks eine gigantische Menge verlorener Zeit gutmachen muss? Da hätte sie mal besser vor zwei Wochen den Zug genommen, damals, als die Lokführer streikten und jede Bahnreise eine beinah unendliche Rauchpause war. Und überhaupt: Qualmen, behaupten die Besserwisser, ist gesundheitsschädlich, jeder Raucher sinkt über kurz oder lang in die Grube.

Das mag sein, und doch sind moralinsaure Mahnungen hier der falsche Ansatz. Tatsächlich ist es eine Schande, wie schäbig die Bahn mit Lungenzügen verfährt. Alle reden von Entschleunigung, nur auf der Schiene kann es noch immer nicht schnell genug gehen. In sechs Stunden von München nach Berlin, das reicht nicht einmal, um einen freien Sitzplatz zu finden, und mit seiner Arbeit am Laptop wird man schon gar nicht fertig. Wenn der Bahnchef - er heißt Grube - wirklich was Gutes für sein Unternehmen tun will, dann baut er in den Fahrplänen, an denen er gerade schreibt, großzügig bemessene Rauchpausen ein, möglichst auf freiem Feld in landschaftlich reizvoller Umgebung. Wiener und andere kultivierte Menschen könnten sich auf ein, zwei Zigarettenlängen ins Gras legen und über Helmut Schmidts neues Buch reden, in bäuerlichen Gegenden wäre sogar eine Partie Kuhroulette drin, und ertappte Schwarzfahrer hätten Gelegenheit, mit dem Kontrolleur über eine Amnestie zu verhandeln. Generell bringt die Rauchpause einen Hauch von Luxus in die nüchterne Welt des Turbokapitalismus, außerdem entlastet sie auf lange Sicht die Rentenkasse. Deshalb gilt auch für Lokführer: Abfahrt ist erst nach dem letzten Zug.

© SZ vom 29.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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