Gewerkschaften:Nur kurz die Welt retten

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Verdi braucht Stärke im Betrieb, nicht vorm Werkstor.

Von Detlef Esslinger

Wer sich als Arbeitgeber den Kopf zerbricht, wie er Gewerkschaften, Tarifverträge und sonstige Formen der gefühlten Enteignung von seiner Firma fernhalten kann - der konnte sich am Dienstag am Bundeskongress der Gewerkschaft Verdi in Leipzig erfreuen. Ein Delegierter sprach: "Wir müssen vor Ort bei den Menschen aktiv sein - und nicht nur hinter den Werkstoren." Der Beifall für ihn war zwar nicht großartig, aber auch keinesfalls spärlich. Mit anderen Worten: Es gibt in dieser Gewerkschaft etliche Aktive, die offenbar finden, dass man es auch übertreiben kann mit der Arbeit im Betrieb. Was für ein Irrsinn. Eine solche Haltung gehört jedoch gewissermaßen zu den Kennzeichen der Gewerkschaft Verdi. Es gibt dort zum einen viele Funktionäre, die es als ihr Kerngeschäft sehen, Tarifpolitik zu betreiben. Es gibt dort die Profis, die wissen, dass mehr Mitglieder stets mehr Macht, also mehr Möglichkeiten bedeuten - wie grundlegend es folglich für eine Gewerkschaft ist, Mitglieder zu gewinnen. Zum anderen jedoch ist Verdi immer noch bevölkert von Aktiven, denen allgemeines Agitieren und weltpolitische Laberei wichtiger ist als konkrete Gewerkschaftsarbeit.

"Vor Ort aktiv sein" ist die Chiffre dafür. Arbeitnehmer treten aus einem einzigen Grund einer Gewerkschaft bei: damit die in Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern ihre Interessen vertritt. Die Geschichte der Industriegesellschaft lehrt, dass dies einer Gewerkschaft nur gelingt, wenn sie ausreichend Mitglieder hat, um mit einem Streik zumindest wirksam drohen zu können. Die Arbeitsbedingungen in der Industrie sind überwiegend deshalb gut, weil die IG Metall und die IG Bergbau, Chemie, Energie stets über ausreichend Mitglieder zu verfügen wussten. Die Arbeitsbedingungen in der Dienstleistungsgesellschaft werden nur dann ebenso gut sein, wenn es der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, Verdi, gelingt, auch in den neuen, wachsenden Branchen so viele Beschäftigte als Mitglieder zu gewinnen, dass sie eine Streitmacht bedeuten.

Dies ist dort viel schwieriger als in der Industrie. Das klassische Mitglied ist der männliche Facharbeiter im traditionellen deutschen Großbetrieb. In den Dienstleistungsbranchen arbeiten jedoch überdurchschnittlich viele Frauen sowie Geringqualifizierte entweder in kleinen Betrieben oder in großen, die aber oft ausländischen Ursprungs sind. Dennoch: Zu deren mühsamer Erschließung gibt es für eine Gewerkschaft keine Alternative. Es sei denn, sie wollte sich delektieren an ihrer Schwäche.

Der Verdi-Kongress zeigt: Zu viele Funktionäre im Mittelbau der Organisation tun genau das. Nicht in zwei oder drei, sondern in Dutzenden Anträgen leben sie ihre Gegnerschaft zu TTIP aus. Sie wollen Gewerkschaften "starkmachen als Friedenskraft". Sie verlangen "Bafög ohne Altersbegrenzung". 1400 Anträge sind auf diese Weise zusammengekommen, die bis Samstag debattiert werden wollen. Wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren an der Uni: Der AStA interessierte sich für alles Mögliche auf der Welt, nur nicht so sehr fürs scheußliche Essen in der Mensa.

Nach Jahren des Niedergangs hat Verdi es inzwischen geschafft, die Mitgliederzahl bei zwei Millionen stabil zu halten. Bei einer Firma wie Amazon brauchte man vor vier Jahren an Streik nicht einmal zu denken. Nun aber gibt es an acht von neun deutschen Standorten ausreichend Mitglieder, damit ein Streikaufruf zumindest nicht lächerlich wirkt. Tendenziell geht es überall dort voran, wo Funktionären die Arbeit hinterm Werkstor nicht zu profan, sondern das Wichtigste ist. Dort allerdings, wo Graubärte lieber weiterhin AStA spielen, als ernsthaft um Mitglieder zu werben - dort gibt es zwar Klassenkampf. Aber lediglich in Gestalt einer harmlosen Parole.

© SZ vom 23.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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