Gewalt in Russlands Armee:Die Herrschaft der grausamen Großväter

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Erpressung, Prügel und Folter sind in der russischen Armee alltäglich - Kritiker bezweifeln, dass sich an dem System bald etwas ändern wird.

O. Bilger

Andrej Sytschow sitzt im Wohnzimmer und ist doch ganz woanders. Vielleicht sind seine Gedanken in dieser einen Nacht, die sein bisheriges Leben abrupt beendete: Silvester 2005. In der Panzeroffiziersschule in Tscheljabinsk, im Südural, wollten die Soldaten das alte Jahr verabschieden. Es gab Salate und viel Wodka.

Die Verhältnisse in der russischen Armee sind bestürzend - Gewalt unter Kameraden gehört dazu wie Gleichschritt und Schießübungen. (Foto: Foto: Getty)

Seit sechs Monaten war der 19-jährige Sytschow in der Kaserne stationiert. Als ältere Wehrdienstleistende ihm befahlen, den Tisch abzuräumen, kam es zum Streit. Mehrere Soldaten zwangen Sytschow in die Hocke, fesselten und verprügelten ihn. Stundenlang. Erst drei Tage spät er kam er ins Lazarett. Weitere drei Tage darauf verlegte man ihn in ein öffentliches Krankenhaus. Um sein Leben zu retten, mussten die Ärzte beide Beine und seine Genitalien amputierten.

Heute, fast drei Jahre später, starrt Sytschow gedankenverloren aus dem Wohnzimmerfenster auf die benachbarten Häuserblocks. Das braune Haar trägt er kaum länger, als es beim Militär üblich ist. Der junge Mann ist noch immer traumatisiert. Mit Fremden redet er nicht gerne. Stattdessen spricht seine Mutter: "Wir versuchen, uns nicht zu erinnern", sagt Galina Sytschowa. Ein Albtraum sei das alles gewesen, erklärt die 54-Jährige. Wenn ihr Sohn an die Silvesternacht denke, schließe er sich in seinem Zimmer ein und weine.

2000 Tote in Friedenszeiten

Andrej Sytschow erlangte damals traurige Berühmtheit, weil er - so zynisch das klingen mag - die Folter überlebte. Denn wenn ein Soldat bei der grausamen Tortur stirbt, lässt sich sein Tod von den Befehlshabenden leichter vertuschen. Gewalt unter Kameraden gehört zur russischen Armee wie Gleichschritt und Schießübungen. Erpressung, Prügel, Folter und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Die Soldaten sind sich selbst die größten Feinde.

Der Volksmund nennt die Misshandlungen von Rekruten durch ältere Soldaten "Djedowschtschina", "Herrschaft der Großväter". Wer Erniedrigung und Schmerz im ersten Dienstjahr übersteht, gibt diese Grausamkeiten an nachfolgende Rekruten weiter. Der Skandal um Sytschow erschütterte Russland und hätte womöglich ein Wendepunkt sein können. Wenn die Regierung Maßnahmen gegen das grausame Ritual ergriffen hätte. Damals war viel von Reformen die Rede, etwa von freierem Zugang der Eltern zu den Kasernen oder der Gründung einer Militärpolizei. Wirkliche Neuregelungen blieben jedoch aus.

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Das Komitee der Soldatenmütter, eine Menschenrechtsorganisation, die gegen die Missstände kämpft, registriert jedes Jahr etwa 2000 Todesfälle in der Armee - in Friedenszeiten. Ein großer Teil lasse sich auf Misshandlungen zurückführen. Im vergangenen Jahr haben nach Angaben der Militärstaatsanwaltschaft 341 Soldaten ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt.

Auslöser soll nach Expertenmeinung auch hier in den meisten Fällen die brutale Quälerei gewesen sein. Die Dunkelziffer der Gewaltfälle dürfte noch weit höher liegen. Wer kann, entzieht sich dem Dienst am Vaterland. Dafür gibt es diverse - nicht immer ganz legale - Möglichkeiten; viele junge Männer kaufen sich frei. "Die Armee ist ein Menschenfresser", sagt Ludmila Sintschenko vom Komitee der Soldatenmütter.

Kürzlich hat die Herbsteinberufung junger Rekruten begonnen. Seit diesem Jahr dauert der Wehrdienst nur noch zwölf Monate, statt bisher zwei Jahre. Die wachsende Zahl der Berufssoldaten, der sogenannten Kontraktniki, erlaubt dies.

Viktoria Gromowa von der Menschenrechtsorganisation Youth Human Rights Movement, hofft, dass die Verkürzung der Wehrpflicht zu einer Abnahme der Gewalt führen wird. Schließlich gebe es nun keine "Großväter" mehr, wie die Soldaten im zweiten Jahr heißen. Zunächst könne die Gewalt jedoch sogar zunehmen: Denn wer länger dienen musste, räche sich nun an den Neuankömmlingen mit kürzerer Wehrdienstdauer, sagt Gromowa.

Walentina Melnikowa, die Vorsitzende der Moskauer Soldatenmütter, hat starke Zweifel, dass sich die Situation ändern wird. "Für Misshandlungen reicht eine Nacht in der Kaserne", sagt sie. Das Problem seien nicht allein die älteren Wehrdienstleistenden. Die Rekruten würden auch von Offizieren verprügelt, zum Bau ihrer Datschen verdonnert oder zur Arbeit in Fabriken abkommandiert, wobei sie den Lohn an die Ranghöheren zahlen müssten. Mittlerweile sind in den Kasernen Handys zumindest erlaubt, mit denen die Soldaten im Notfall Hilfe rufen können. Doch auch diese Maßnahme helfe nur in Einzelfällen, führten aber zu keiner umfassende Verbesserung der Lage, glaubt Melnikowa. Seit mehr als 30 Jahren beobachtet sie die Armee. Nichts habe sich seitdem verändert, sagt sie. Nur die Umstellung auf eine komplette Freiwilligenarmee könnte ihrer Meinung nach die Missstände beenden.

Die russische Regierung kündigte nach dem Georgienkrieg an, die Modernisierung der Armee zu beschleunigen. Die Zahl der Berufssoldaten soll weiter wachsen. Vor allem geht es aber um die Erneuerung der Waffentechnik. Die inneren Probleme der Armee spielen keine Rolle. Und Rekruten werden weiterhin unter Druck gesetzt, damit sie sich über ihr Militärjahr hinaus dem Dienst an der Waffe verpflichten.

"Mit dem Rollstuhl können wir nirgendwohin"

Das russische Verteidigungsministerium äußert sich nicht zu der Großväterherrschaft und auch nicht zum Schicksal von Andrej Sytschow. Der bekam damals von der Regierung Geld für Medikamente und eine Wohnung in Jekaterinburg gestellt. Dort lebt er mit seiner Mutter und der Schwester Marina. Die meiste Zeit verbringt er in der Wohnung. "Mit dem Rollstuhl können wir nirgendwohin", klagt Galina Sytschowa. Im Nordwesten der Stadt gibt es keinen Park, der kleine Hof vor dem Haus ist im Sommer staubig und im Winter vereist. Der Alltag ist für Sytschow ein Kampf gegen die Langeweile. Die meiste Zeit verbringt er vor dem Computer.

Deshalb soll Sytschow die Sommermonate künftig in Krasnoturjinsk verbringen. In der Kleinstadt, fast fünf Autostunden nördlich von Jekaterinburg, ist er aufgewachsen. Dort lässt die Familie gerade eine Datscha bauen. Spätestens im Winter muss Sytschow jedoch zurück in die Stadt, denn in der Provinz fehlen die Ärzte, auf die er nach wie vor angewiesen ist. Eine Niere funktioniert nicht mehr, immer wieder hat er fiebrige Anfälle. Zwei Mal im Jahr muss Sytschow zu Untersuchungen in ein Militärhospital nach Moskau.

In Kürze steht wieder ein Klinikbesuch in der Hauptstadt an. Ob die Armee die Reisekosten übernimmt, kann Galina Sytschowa nicht sagen. Sie warte noch auf das Geld für die letzte Reise im Frühjahr. Hätte ihr Sohn zwei gesunde Beine, seufzt sie, dann könnte er heute seinen Traumberuf ausüben: Automechaniker. Hätte es doch bloß diese eine Silvesternacht nie gegeben.

© SZ vom 11.11.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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