Gescheitertes EU-Referendum:Der Vater der Niederlage

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Er wird in die Geschichte als der Präsident eingehen, der das Referendum über Europa verloren hat. Nie zuvor in zehn Jahren Amtszeit war Jacques Chirac so angeschlagen, doch beim Thema Rücktritt fällt ihm nur sein getreuer Premier ein.

Von Gerd Kröncke

Am Sonntagabend in seinem Büro im Elysée, wo ihm die immer präziseren Voraussagen der Institute gereicht wurden, saß ein konsternierter Präsident. Jacques Chirac hatte zum Schluss mit einer Niederlage gerechnet, aber nicht in diesem Ausmaß.

Frankreichs Kinder sollen nicht im Diktat der EU-Verfassung aufwachsen, so denkt zumindest die Mehrheit der Wähler. (Foto: Foto: AP)

Gegen halb neun wusste er, was die Stunde geschlagen hatte und seine Wortschmiede machten sich an die Arbeit. Zur selben Zeit kursierten im Internet bereits Ergebnisse, obwohl in Lyon und Paris die Nachzügler noch bis zehn Uhr zu den Urnen gehen konnten.

Auf dem Forum lemonde.fr verbreitete jemand ein Ergebnis, das den Tatsachen nahe kam: 51 Prozent für das Nein; etwas später korrigierte er sich auf 56 Prozent. Nicht schlecht.

Zu dieser Zeit telefonierte Chirac mit seinem Premierminister, damit der seinem Präsidenten einen letzten Dienst erwiese. Der Regierungschef gibt nun den Sündenbock und spielt die Rolle, die nicht mehr abzuwenden ist, beinahe mit Lust.

Der Geplagte lacht fröhlich

Der arme Jean-Pierre Raffarin musste sich an diesem Montagmorgen, als er im Elysée-Palast bei seinem Chef Chirac vorsprach, nicht länger von seiner Depression Rücken und Schultern krümmen zu lassen.

Seit der Präsident am Abend zuvor, gleich nachdem das Ausmaß der Ablehnung der Europäischen Verfassung deutlich geworden war, klar gemacht hatte, dass er die Regierung umbilden werde, war aller Druck von Raffarin genommen.

Er hatte schon vor Wochen Freunden anvertraut, dass er bei einem Nein aufgeben werde: "Es wird das fünfte Mal sein, dass ich meine Demission anbiete, aber diesmal ist es unumstößlich." Bevor er am Montag in die Limousine stieg, machte er noch eine Geste, hob die Arme gen Himmel und lachte entspannt, fröhlich.

Chirac wird ihn von der Bürde des Regierens befreien. Zuletzt hatte Raffarin zunehmend weniger Lust gehabt, sich den Strapazen des täglichen Kampfes um so viele missglückte Reformen zu stellen. Raffarin blieb im Amt und zeigte eine geradezu selbstzerstörerische Loyalität.

Das Volk feiert

Anfang des Monats war ihm alles derart auf die Galle geschlagen, dass er sich operieren lassen musste. Der Präsident nimmt das als selbstverständlich hin. Er opfert, um die eigene politische Haut zu retten, seinen Regierungschef.

Die Erleichterung wird nicht von Dauer sein. Chirac hat ein Volk gegen sich und nicht nur die Linken. Der Wahltag hatte trübe geendet. Auf der Place de la Bastille hatten sich Chirac-Gegner getroffen, um ihren Triumph zu feiern.

Auf diesem Platz strömen die Linken zusammen, wenn es etwas zu bejubeln gibt, wie einst den Einzug von François Mitterrand in den Elysée-Palast. Aber am Sonntagabend war das Fest nur mühsam in Gang gekommen. Es hatte geregnet, der Tag in Paris war schwül gewesen.

Zunächst waren nur ein paar Dutzend junge Leute zusammengelaufen. Die paar Rufe kurz nach zehn - "Wir haben gewonnen" - erschienen fast zaghaft. Dieses "On a gagné" hat man schon ausgelassener gehört.

Später, gegen Mitternacht sollten es drei, viertausend sein, aber zunächst erschien es, als könnten sie an ihren Sieg nicht so recht glauben. Ein verlorener Brite in Paris hatte sich unter die Menge gemischt, ein konservativer Euroskeptiker, der sich daran ergötzte, erstmals in seinem Leben mit Trotzkisten und Kommunisten zu feiern.

Champagner mitgebracht

Rote Fahnen sieht man besser, der Brite hat zuhause was zu erzählen. Einige hatten Champagner mitgebracht. An der Bastille haben sie Chiracs Rücktritt gefordert, ein Appell der ungehört verhallt.

Auch etliche politische Gegner, von den Kommunisten bis hin zum rechtsextremen Jean-Marie Le Pen, fordern Neuwahlen, der Präsident denkt gar nicht daran. Er hat klar gemacht, dass er bleiben wird, dass er das Parlament nicht auflösen wird, dass er aushalten wird bis zuletzt.

Die Chiracs: Bernadette und Jaques stimmen für Europa. (Foto: Foto: AFP)

Er folgt nicht dem Beispiel des großen Charles de Gaulle, der nach einem verlorenen Referendum noch in derselben Nacht zurückgetreten war. Und doch ist Chirac nie zuvor so angeschlagen gewesen. Nicht einmal seinerzeit, als sein Premierminister Alain Juppé die Regierungsgewalt an den Sozialisten Lionel Jospin verlor.

Es gibt viele Verlierer an diesem Montag. Angefangen bei den zerstrittenen Sozialisten bis hin zu den Parteigängern des Präsidenten. Aber der Vater der Niederlage, der Verlierer unter allen Verlierern, bleibt Jacques Chirac selber.

Sein Innenminister hatte ihn schon während der Kampagne auf dem Laufenden gehalten; die Präfekten in ausgewählten Départements hatten ihre Voraussagen geliefert. Es war jedoch die schiere Wucht der Niederlage, die den Präsidenten und seine Getreuen so tief getroffen hat.

Er versucht zumindest zu lächeln

Um nicht den Eindruck von Ratlosigkeit aufkommen zu lassen, hatte Chirac gleich die Kameras in den Elysée-Palast bestellt.

Es brauchte die ganze Routine des alten Fahrensmannes, die Enttäuschung im Zaum zu halten. "Sie haben mit Mehrheit die Europäische Verfassung abgelehnt. Das ist Ihre souveräne Entscheidung und ich akzeptiere sie", verkündete er den Franzosen.

Er versuchte ein halbes Lächeln am Ende eines Satzes, aber weil es dafür nun wirklich keinen Grund gab, geriet es nicht versöhnlich, sondern verriet umso deutlicher seine Anspannung. Er betonte "Ihre" Entscheidung, um klarzustellen, dass es die seine nicht war.

Chiracs Anzug war von diesem Grau, das er in letzter Zeit bevorzugt, sein dunkler Schlips wäre auf jeder Beerdigung angemessen gewesen. Grau wirkte der ganze Mann, der nun versicherte, er habe die Botschaft der Franzosen aufgenommen.

Aber hatte er das nicht schon einmal gesagt, vor gut drei Jahren, als die Franzosen ihn mit 82 Prozent gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gewählt hatten?

Endlich heimgezahlt

Da hatten sogar die meisten von denen, die am Sonntag gegen die Europäische Verfassung und damit auch gegen Chirac gestimmt haben, für ihn votiert, damit nicht der Rechtsaußen Le Pen zu gut abschnitte. Sie sind danach nur noch enttäuscht worden und haben es ihm jetzt heimgezahlt.

Es mag ja sein, dass die Linke der Sozialisten den Ausschlag gegeben hat, jene, die sich nicht an die Parteilinie gehalten haben. Aber das große Bild zeigt, dass es nur in den Städten eine Mehrheit für das Referendum gab, ausgenommen Marseille.

Die Arbeiter haben in ihrer Mehrheit mit Nein gestimmt, die kleinen Angestellten, die Bauern, die Jungen, die Arbeitslosen, die Hoffnungslosen in den Vorstädten. Frankreich ist gespalten, auch weil es dieser Präsident nicht verstanden hat, die Nation hinter sich zu vereinen.

Es gibt so viele Verlierer. Auch Nicolas Sarkozy gehört dazu. Er ist Vorsitzender jener Partei UMP, die eigens zur Unterstützung des Präsidenten gegründet worden war. Er hat sie mehr und mehr zu einem Verein für seine eigene Unterstützung gewandelt.

Das Referendum hatte er zu seiner ureigenen Sache erklärt und versprochen, wenn es sein müsste, "jeden einzelnen Franzosen" zu überzeugen.

Sarkozy gilt als einer der Favoriten für die Nachfolge Raffarins. Die Frage ist, ob der geschwächte Präsident sich traut, ihn zu ernennen, was seinen Gegner noch stärken würde, oder ob er sich traut, ihn nicht zu ernennen, dann wird der Rivale zum Feind.

Hilfe von der guten Fee namens Bernadette

Bernadette Chirac, die Frau des Präsidenten, hat gelegentlich zwischen den beiden vermittelt, wenn sie sich in ihrer jeweiligen Position festgerannt hatten. Sarkozy hat sie dafür seine "gute Fee" genannt, und so eine kann er jetzt gebrauchen.

Denn vor mehr als zwei Wochen ist seine Frau auf und davon. Sarkozy gehörte bislang zu den wenigen Männern mit Macht, die zugaben, dass sie ohne ihre Frau verloren wären.

Cécilia hatte ihm zur Seite gestanden, als er Innenminister war, als er Finanzminister war, schließlich arbeitete sie auch dem UMP-Vorsitzenden als dessen Bürochefin zu. Von Chirac weiß man, dass er sich persönliche Schwächeperioden seiner Rivalen zu Nutze macht.

Der andere Favorit für den Posten des Premiers ist Dominique de Villepin, der Innenminister. Er hatte sich seit dem Wahlsieg von 2002 als Außenminister bewährt, vor allem war er zuvor jahrelang als Generalsekretär im Elysée der wichtigste Vertraute Chiracs.

Er zeigte sich am Montagmorgen entspannt, leistete sich demonstrativ den Luxus, ein Stück zu Fuß durch die Straßen zu gehen. Sogar die Sonne schien wieder und de Villepin gab vor, den Spaziergang zu genießen. Sein schlaksiges Schlendern lässt ihn sorglos erscheinen.

Fast wie einst im Mai

Aber kann der Präsident seinen alten Konfidenten wirklich auf den Stuhl des Premiers bugsieren? Der Aristokrat ist geistreich, aber elitär, viele bürgerliche Abgeordnete können ihn nicht ausstehen. Den einfachen Leuten, den Wählern, erscheint er als abgehobener Schöngeist.

In Frankreich sehen manche das Nein vom Sonntag als eine Revolte wie anno'68, nur mit dem Stimmzettel. Marie-Georges Buffet, die Chefin der Kommunisten mit ihrer stalinistischen Vergangenheit, war eine der ersten, die sich dieses Vergleichs bediente.

Den alten Achtundsechziger Daniel Cohn-Bendit, der einst im Mai den Aufstand der studentischen Linken angeführt hatte, wird dies besonders kränken. Er war für ein Ja eingetreten und ist von einstigen Genossen als Verräter beschimpft worden.

Als Deutscher war man irritiert, wie das Wort Liberalismus plötzlich so in Verruf geraten konnte.

Für sie ist die Zukunft vorbei

Wohl hatten es in Frankreich die Wirtschaftsliberalen traditionell für sich in Anspruch genommen, aber seit einiger Zeit ist selbst links von den Sozialisten nicht mehr von Kapitalismus die Rede, nur noch vom libéralisme. Die Europäische Verfassung sei zu liberal, hieß es bei den Gegnern.

Für ein paar Männer ist die Zukunft vorbei. François Hollande, der Vorsitzende einer gespaltenen Sozialistischen Partei, wird sich nicht mehr halten können. Der Traum einer Präsidentschaftskandidatur ist dahin. Valéry Giscard d'Estaing, der Noble, der sich gern den Vater der Europäischen Verfassung nennen ließ, wird niemals Präsident von Europa.

Und natürlich muss der arme Raffarin nun aus dem Hôtel Matignon ausziehen, wo er drei Jahre Hausherr war. Gut dass er neben seinem Herrenhaus in der Provinz der Charentes sein geräumiges Appartement in Paris nie gekündigt hat.

Chirac, der nun schon länger als drei Jahrzehnte fast ausschließlich in Staatsappartments residierte, wird seine Gemächer im Elysée spätestens in 22 Monaten aufgeben müssen. Bislang hatte er nicht ausgeschlossen, noch ein weiteres Mal zu kandidieren.

Nach dem Ergebnis vom Sonntag hat sich die Frage erledigt. Er wird in die Geschichte als der Präsident eingehen, der das Referendum über Europa verloren hat.

© SZ vom 31.5.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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