Gerichtsurteil:Italienische NS-Opfer dürfen Deutschland verklagen

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Auf Deutschland könnten Schadenersatzforderungen von Zehntausenden ehemaligen italienischen Zwangsarbeitern zukommen. Ein Gericht in Rom hat entschieden, dass die NS-Opfer das Recht haben zu klagen - und Deutschland sich nicht auf das Prinzip der Staatenimmunität berufen könne.

Stefan Ulrich

Auf Deutschland kommen offenbar mehr als 100.000 Klagen ehemaliger italienischer Zwangsarbeiter zu. Der Kassationsgerichtshof in Rom, das oberste Zivilgericht Italiens, entschied in mehreren am Mittwoch veröffentlichten Urteilen, die Zwangsarbeiter aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs dürften den deutschen Staat vor italienischen Gerichten auf Schadensersatz verklagen.

NS-Zwangsarbeiter in Osnabrück (Foto: Foto: dpa)

Deutschland könne sich nicht auf das Prinzip der Staatenimmunität berufen. "Die internationale Gemeinschaft betrachtet die Verschleppung und die Unterjochung der Deportierten zur Zwangsarbeit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit", heißt es in den Musterentscheidungen, die die Fälle von etwa 50 Italienern betreffen. Angesichts solcher Delikte stoße die Staatensouveränität an ihre Grenzen.

Die Anwälte der Kläger wollen ihre Musterfälle nun bei gewöhnlichen italienischen Zivilgerichten durchsetzen. Luca Procacci, der zwölf ins deutsche Zwangsarbeiterlager Gaggenau verschleppte Italiener vertritt, sagte: "Es ist eine Schande, dass Deutschland immer noch einen Taschenspielertrick nach dem anderen auffährt, um keinen einzigen Euro zu bezahlen."

Dieses Urteil sende nun ein starkes Signal an die Bundesrepublik. In Italien "liegen mehr als Hunderttausend Klagen bereit". Die Mandanten Procaccis verlangen je eine Million Euro Entschädigung.

"Das ist ein Hammer"

Der italienische Europaabgeordnete Mario Borghezio sagte der Zeitung La Repubblica: "Jetzt muss Deutschland zahlen." Die Zwangsarbeiter seien es leid, weiter zu warten.

Ein deutscher Völkerrechtler, der nicht genannt werden möchte, bewertete das Urteil spontan mit den Worten: "Das ist ein Hammer." Gegen die Entscheidung gebe es in Italien keine Rechtsmittel. Der Bundesrepublik bleibe nur noch der Weg nach Den Haag. Sie müsse Italien vor dem Internationalen Gerichtshof verklagen, um ihre Staatenimmunität bestätigt zu bekommen.

Deutsche Rechtsexperten behaupteten am Mittwoch, Berlin habe in Den Haag gute Erfolgschancen. Italien sei bisher das einzige Land, das in solchen Fällen die Staatenimmunität aberkenne. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte am Abend: "Wir haben das Urteil erhalten." Es werde nun übersetzt. Danach werde die Bundesregierung prüfen, welche Schritte sie einleite.

Aus dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatenimmunität folgt, dass Bürger fremder Staaten einen anderen Staat nicht vor ihren Gerichten auf Schadensersatz verklagen können. Der Grundsatz soll die Handlungsfähigkeit der Staaten schützen.

Im Völkerrecht ist jedoch umstritten, wie weit er gilt. Eine neuere Lehre postuliert, grob völkerrechtswidrige Handlungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien nicht mehr von der Staatenimmunität gedeckt.

Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter

Italien kämpfte im Zweiten Weltkrieg bis zum Sommer 1943 an der Seite Nazi-Deutschlands. Im September 1943 schloss es einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Deutschland ließ daraufhin Hunderttausende Menschen, Soldaten aber auch Zivilisten, ins Deutsche Reich deportieren. Viele mussten unter grausamen Bedingungen Zwangsarbeit leisten.

Dennoch erhielten die Italiener von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" keine Entschädigung. Deutsche Gerichte argumentieren, die Italiener seien Kriegsgefangene gewesen, die laut Stiftungsgesetz nicht "leistungsberechtigt" gewesen seien.

© SZ vom 5.6.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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