Genossen im Süden:Bedrohte Art

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Bayern und Baden-Württemberg sind Niemandsland für die SPD. Wie gehen die Mitglieder damit um? Ein Besuch in der Diaspora der Sozialdemokratie - in Biberach und Straubing.

Von Ulrike Nimz, Biberach/Straubing

Johannes Gerster hat ein Problem. Wenn ihm jemand eine E-Mail schickt, landet die manchmal nicht bei ihm, sondern bei seinem Namensvetter. Dieser andere Johannes Gerster lebt in Mainz, war Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, ist noch immer bei der CDU und nicht scharf darauf, die elektronische Post von Provinz-Sozis zu bekommen. Seitdem bläut Johannes Gerster, 71, Sozialdemokrat im oberschwäbischen Biberach, den Genossen ein, seine Mailadresse ja richtig zu schreiben, damit nicht noch mehr Parteigeheimnisse beim Feind landen. Man hat es auch so schwer genug.

Einmal im Monat trifft sich die AG 60 Plus des SPD-Ortsvereines Biberach im Gasthaus "Drei König". Draußen führt der Jakobsweg vorbei, drinnen ist der Rhabarber-Schmand-Kuchen noch selbst gemacht, und der Vorsitzende spricht über alte Zeiten. 19 Jahre alt war Johannes Gerster und noch kein Sozialdemokrat, als er Willy Brandt das erste Mal traf. Berlins Regierender Bürgermeister besuchte damals das Bayerische Hüttenwerk in Sonthofen und habe ihn umarmt wie einen Freund, erzählt Gerster - "Wange an Wange". Als Johannes Gerster Willy Brandt das zweite Mal sah, stand der als Kanzler auf dem Biberacher Marktplatz vor Tausenden jubelnden Menschen. Ein Kennedy-Moment. "Das war ein Mann, der noch zur Sache gestanden ist", sagt Gerster. Und was er meint ist, dass es heute an solchen Genossen fehlt. Eigentlich an Genossen überhaupt. Eine regionale sozialdemokratische Identität, den Mythos vom rußverschmierten Malocher, gibt es - wenn - dann doch nur noch in Nordrhein-Westfalen.

Der Süden ist Niemandsland für die SPD. In Bayern und Baden-Württemberg kam die Partei bei der Bundestagswahl auf kaum mehr als 20 Prozent der Zweitstimmen. In beiden Ländern scheinen die Sozialdemokraten den Anschluss an das Lebensgefühl der Menschen verloren zu haben. Unglücklicherweise leben hier knapp 30 Prozent der Stimmberechtigten. Solange es für die SPD im Süden nicht klappt, könnte man sagen, wird es auch im Bund schwer. Was gedenken sie in der Diaspora dagegen zu tun?

Sozialdemokratie und Schmandkuchen. Besuch bei der AG 60 Plus der SPD Biberach. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Johannes Gerster ist seit mehr als 50 Jahren in der Gewerkschaft, seit 30 in der SPD. Vier Mal stand sein Name auf einer Kommunalwahlliste. Seine Enkel nimmt er schon mal mit zu Streiks nach Stuttgart: "Damit die wissen, wo sie später hingehören." Noch am 1. Mai stand der Senior mit einem Pappschild vor dem Bauch auf dem Biberacher Marktplatz. "Adios Lohn-Dumping!" war darauf zu lesen. Zugejubelt hat ihm niemand.

Der schlechte Zustand der Friedhofstoiletten beschäftigt die Genossen in Biberach

Im Landkreis herrscht nahezu Vollbeschäftigung. Zuletzt erschütterte ein Ausbruch von Rinderherpes die Region. Derzeit bewegt die Genossen der schlechte Zustand der Friedhofstoiletten. Was fehlt, ist die fruchtbare Feindschaft von Proletariat und Großindustriellen, der Humus also, in dem der Mythos Sozialdemokratie wurzelt. In den mittleren Städten haben sie andere Probleme: Verkehrschaos durchs Ein- und Auspendeln, Stromtrassen - alles Umweltthemen. Als 2011, nach 58 Jahren, im Ländle endlich der Wechsel kommt, ist das einem wertkonservativen Grünen und einer Kernschmelze in Japan zu verdanken, nicht dem SPD-Kandidaten.

Was also bleibt den Genossen anderes übrig, als neue Themen aufzutun? Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Biberach beispielsweise sucht schon seit einer Weile den Schulterschluss zu anderen bedrohten Arten und setzt sich für die Honigbiene ein. Johannes Gerster wirbt für einen Umwelttag des DGB in Rot an der Rot. In dieser Gemeinde, die sich zumindest dem Namen nach als sozialdemokratische Hochburg eignete, gibt es ein Fußballfeld, genannt "Hexenkessel", keinen einzigen Sozialdemokraten im Gemeinderat und ein Ölfeld. 1995 hat man die Förderung eingestellt. Weil der Ölpreis lockt, prüft das Unternehmen Wintershall derzeit die Wiederaufnahme. Obwohl die Firma dementiert, geistert das Wort "Fracking" durch die Region. Eine Technik zur Öl- und Gasförderung, über die in der großen Koalition viel debattiert wurde: Könnte man diese ganze heiße Luft in den Boden pressen, man bräuchte keine Chemikaliensuppe mehr. Seit der Verabschiedung des Frackinggesetzes nun, seit Freihandelsabkommen und Vorratsdatenspeicherung hat Johannes Gerster insbesondere für Sigmar Gabriel nicht mehr viel übrig: "Der isch wagglig wien Waggelpudding", sagt Gerster, und die fiese Zweideutigkeit dieses Satzes kommt so richtig erst im Schwäbischen zur Geltung. Für die SPD, das sagt Gerster auch, müssen es jetzt die Jungen richten.

Johannes Gerster findet, in der Sozialdemokratie müssen es jetzt die Jungen richten. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Als das Mädchen Johanna Uekermann die Schule im niederbayerischen Straubing besuchte, standen die Chancen, Außenseiterin zu sein, nicht schlecht. Sie ist das Kind zweier Lehrer; beide sind Sozialdemokraten im Königreich der CSU. Der Landkreis Straubing-Bogen gilt als einer der schwärzesten in Bayern. Das Mädchen Johanna Uekermann erlebte mehr Parteiveranstaltungen als Kindergeburtstage, bis es mit 14 selbst in die SPD eintrat, später in den Kreistag einzog, mit mehr Stimmen als der Vater. In der Schule hatten ihr Mitschüler prophezeit, die erste Kanzlerin zu werden und lernten alsbald eine wichtige politische Lektion: Ziele sind dafür da, um korrigiert zu werden.

Nach Berlin hat sie es trotzdem geschafft. Seit 2013 ist Johanna Uekermann, 27, Vorsitzende des Bundesverbandes der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Eine Frau, die für Rot-Rot-Grün wirbt, Bodo Ramelow sympathischer findet als Angela Merkel und gestandene Parteikollegen vom Rednerpult herab schon mal als "alte Säcke" bezeichnet. Bis heute bestehen einige dieser alten Säcke auf dem "Sie". Unter duzenden Genossen so etwas wie die höchste Form der Missbilligung. Ihr Zimmer im Elternhaus liegt unter dem Dach, vor dem Fenster rankt Efeu. Es sieht noch so aus wie sie es verlassen hat, als sie mit 18 auszog - fast. Statt Postern der Backstreet Boys soll hier mal ein Porträt von Willy Brandt gehangen haben. Das habe sie mitgenommen nach Berlin, sagt sie. Man müsse Verständnis haben für diese Form der Nostalgie: "Damals hatten die Leute das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen."

Der Garten hinter dem Holzhaus der Uekermanns ist abschüssig. An dessen Fuße war einmal ein Teich. Und weil sich um den niemand so recht kümmern mochte, kippte das Gewässer, nun ist dort Sumpf. Mit der Stimmung im Land ist es, aus Sicht der SPD, ganz ähnlich. Die Stimmung kippte mit Gerhard Schröder, der Rente mit 67 und Hartz IV. "Die ganze Schröder-Zeit war schrecklich", sagt Uekermann in einem Ton, mit dem andere auf eine schwere, noch nicht vollständig überwundene Krankheit zurückblicken. Wenn sie über ihre Arbeit spricht, dann immer von Arbeiter Innen, Wähler Innen, Politiker Innen. Der Glottisschlag, die kurze Pause vor dem Binnen-I, trennt nicht nur Silben, sondern auch die Feministin Uekermann von all den Bierbank-Patriarchen da draußen, auch denen in der eigenen Partei.

Sie soll es richten: Johanna Uekermann ist Bundesvorsitzende der Jusos. (Foto: Natalie Neomi Isser)

Und irgendwo in Erfurt streichelt Bodo Ramelow leise lächelnd seinen Terrier

Kaum kommt man auf die jüngsten Errungenschaften der SPD zu sprechen, hagelt es Widerworte. Mindestlohn? Nicht für Minderjährige und Langzeitarbeitslose. Frauenquote? Die Hälfte der Menschheit sei weiblich, nicht nur 30 Prozent. "Fernzielpathos" hat der Göttinger Parteienforscher Franz Walter das mal genannt: den Umstand, dass die SPD sich lieber an gesellschaftlichen Utopien statt am politischen Alltag abarbeite. Tatsächlich hat auch Uekermann schon die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise gefordert. Und irgendwo in Erfurt streichelte Bodo Ramelow leise lächelnd seinen Terrier. Kann so eine die SPD retten? In Bayern?

Es gibt ein Wort, was die Sozialdemokraten im Süden gleichermaßen interessiert wie deprimiert. Das Wort heißt Wählervolatilität. In der Statistik ist sie Maß dafür, wie sehr die Parteipräferenzen der Wähler über die Jahre schwanken. Nur dass in Bayern gar nichts schwankt. Es gibt Landstriche, da ist die CSU so etwas wie eine Staatspartei. Wer einen neuen Bolzplatz braucht, der geht zur CSU. Wer das Okay für eine Straßenbegradigung braucht, der spricht mit der CSU. Wer was zu sagen haben will, der geht zur CSU. Manchmal sogar Sozis. Michael Adam, seit 2011 Landrat in Regen, gab bei der Bundestagswahl seine Zweitstimme der CSU. "Um die Partei wachzurütteln", wie er sagte. Die führenden Köpfe der SPD-Landesliste hielt Adam für "unwählbar". Uekermann hatte auf dieser Liste Platz 38, Adam als Fürsprecher und keine Aussicht auf Erfolg. Wäre Binnenpluralismus doch so leicht zu formen wie das Binnen-I. Nun steht sie hier, in der Mitte ihres Mädchenzimmers, und sie sagt, dass sie nie aufhören will zu kämpfen. Man könne den Süden ja nicht einfach abschreiben. Dabei wäre es ein Leichtes zu flüchten, nach Berlin oder in die Vergangenheit.

Wer nun wissen will, wie er aussieht, der Kampf, der muss mitfahren nach Landau an der Isar. Wieder ein Wirtshaus, nebenan auf dem Weinfest tun sie so, als wäre das hier Landau in der Pfalz. Dort immerhin ist die SPD im Stadtrat auf Augenhöhe mit der CDU. Vor dem Kreisverband Dingolfing-Landau soll Johanna Uekermann heute über den Generationenvertrag sprechen. Der Saal ist gut gefüllt. Die Bedienung sieht mit ihrem blonden, auftoupierten Bob ein bisschen aus wie Evelyn Hamann, die Schauspielerin, die ja irgendwann viel mehr war als nur der Sidekick von Vicco von Bülow. "Gottlose Vaterlandsverräter" schlug sie einst in einem Loriot-Sketch als Synonym für die SPD vor, "schwarze Pest" für die CSU. Alles austauschbar? So leicht zu verwechseln wie zwei Mailadressen? Uekermann spricht an gegen das Klappern von Gabeln auf Porzellan, gegen das Geräusch, das ein Bierglas macht, wenn es mit Schwung auf den Tisch gestellt wird. Ihren Dialekt kann sie an- und ausschalten, dieses Niederbayerisch, das ja eigentlich fast nur aus "r" und "oi" besteht. "Den Menschen muss man heute nicht erzählen, wo wir waren, sondern vor allem, wo wir hinwollen", ruft sie. Ja, da steht eine hinter dem Rednerpult, die so gern mehr wäre als der Sidekick der Union. Und die Genossen klopfen auf Holz.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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