Genitalverstümmelung:Mehr Mädchen gefährdet

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Charlotte Weil, 27, ist Regionalwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Afrika und Referentin für weibliche Genitalverstümmelung in der Berliner Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes. (Foto: N/A)

Beim Straftatbestand Genitalverstümmelung drohen bis zu 15 Jahre Haft. Dennoch muss Terre des Femmes warnen: 13000 in Deutschland lebende Mädchen sind bedroht.

Interview von Susanne Klein

SZ: Am Dienstag haben Sie bekannt geben, dass 13 000 in Deutschland lebende Mädchen von Genitalverstümmelung bedroht sind - 4000 mehr als vor einem Jahr. Wie kommt es zu dieser Zahl?

Charlotte Weil: Der hohe Anstieg geht vor allem auf Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und dem Irak zurück. 2700 der gefährdeten Mädchen stammen allein aus Eritrea.

Wie können Sie das so genau wissen?

Es ist eine Hochrechnung. Das Statistische Bundesamt weiß, wie viele Mädchen unter 18 aus Ländern, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, hier leben. Auf diese Zahlen rechnen wir die Quote der Betroffenen im jeweiligen Land an, in Somalia etwa 98 Prozent, in Ägypten 87 Prozent. Und wir berücksichtigen den Zeitfaktor: In der zweiten Migrantengeneration sind aufgrund der kulturellen Anpassung nur noch halb so viele Mädchen betroffen.

Ist nicht in Ägypten die Beschneidung längst verboten?

Ja, wie in vielen Ländern. Das Gesetz ist ein wichtiges Signal, aber ohne Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit ist es nutzlos.

Wie ist die rechtliche Situation hier in Deutschland?

Weibliche Genitalverstümmelung ist hier seit 2013 ein Straftatbestand, dafür haben wir lange gekämpft. Und seit 2015 ist sie auch ein Auslandsstraftatbestand. Wenn also Eltern ihre Tochter in den Ferien im Senegal beschneiden lassen, kann das in Deutschland geahndet werden.

Welche Strafe droht?

Bis zu 15 Jahre Haft. Aber aus Deutschland ist uns kein bewiesener Fall bekannt. In Paris ist jedoch eine Beschneiderin angeklagt und verurteilt worden. Auch in anderen europäischen Communitys gehen ältere Frauen diesem Beruf nach.

Welche Schuld trifft die Eltern?

Man muss wissen, dass Mütter ihre Töchter beschneiden lassen, weil sie das Beste für sie wollen. In den betreffenden Kulturen können Mädchen sonst nicht heiraten, vielfach werden sie sogar verstoßen. Daher sind wir auch dagegen, bedrohte Mädchen direkt von ihrer Familie zu trennen.

Was tun Sie stattdessen?

Einzelne Mitglieder der Communitys so ausführlich schulen, dass sie ihre eigenen Leute aufklären können. Denn Außenstehenden ist dieser Zugang meist verschlossen. Unser Projekt heißt "Change Plus" und wird von der EU gefördert.

Wie erfahren Sie von akuten Fällen?

Meistens rufen Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen oder Ärztinnen an, die einen konkreten Anhaltspunkt haben. Manchmal melden sich auch Mütter, deren Mann die Beschneidung will. Wir versuchen dann, einen Kontakt zu Beratungsstellen zu vermitteln. Erhärtet sich der Verdacht, geht es zum Jugendamt. Das könnte dann etwa mit den Eltern vereinbaren, dass es nicht zu einer Genitalverstümmelung kommt.

Was können Schulen tun?

Ihre Lehrer zur Fortbildung schicken, damit sie mit dem Thema umgehen lernen. Allerdings bekommen wir schon viel mehr Anfragen, als wir bewältigen können. Das Bundesfamilienministerium müsste dringend Schulungen und Beratungsstellen finanzieren.

© SZ vom 19.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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